Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen
ihrer Lungen hervor, sie sah mich nicht mehr, kramte in ihrer Tasche und spuckte in eine Zigarettenschachtel.
»Ich hab noch drei Wochen«, sagte ich. Marta schüttelte den Kopf, zeigte auf ihre Ohren.
»Drei Wochen!«, rief ich.
»Ja und?«, las ich von Martas Lippen.
»Dann ist Abgabe. Ich dürfte nicht hier sitzen«, sagte ich. Ich dachte an die langen, neonbeleuchteten Flure meines Instituts, an die Arbeitspläne, die ich erst gestern Morgen in meinem Zimmer über das Telefon gepinnt hatte, meine To-do-Listen, an die Koffein-Tabletten in meiner Jackentasche. An den letzten Punkt meiner Arbeit, den ich nun endlich würde angehen müssen: Identitätsbildung als Gegenstand und Ziel der Sozialpädagogik .
Und nun saß ich hier, mit Marta, sah in ihre Augen, wusste gar nichts mehr.
»Dann geh, wenn du nicht dürftest!«, sagte Marta. »Was schreibst du eigentlich?«
»Ich hab im Studium ein behindertes Kind einer behinderten Mutter betreut. Und jetzt versuche ich seit einem Jahr, eine Arbeit über den Job zu schreiben. Eigentlich geht es darum, wie man die Beziehung zur Mutter als wichtige Bezugsperson aufrechterhält.« Marta machte kleine Kreise mit ihrem Kopf und sie zeigte mit beiden Händen auf ihre Ohren, ich winkte ab und rief: »Egal!«
Marta nickte, hob den Daumen und stand auf. Sie zog sich die langen braunen Haare vor den Mund, schnappte mit den Lippen danach, dann fiel ihre Hand herunter und schlenkerte an ihrem Arm aus, als sei der ganze Arm plötzlich ausgeschaltet worden. Ihre Haarspitzen waren abgekaut. Sie trug ein dünnes, pinkes T-Shirt, das alt und billig aussah auf eine Art, bei der man genau wusste, dass es zweihundert Euro gekostet hat. Der Ausschnitt war zu weit und ausgeleiert. Marta verzog das Gesicht und beugte die Hüfte vor wie bei einer gymnastischen Übung. So stand sie vor mir, nach unserem ersten Frühstück, ich sehe sie mehr als genau vor mir, es ist wie eingebrannt, dieses Bild von Marta. Ich saß und sah sie an, weil ich nicht begriff, dass sie einfach gehen konnte, ohne zu bezahlen. Ich kannte die Regeln nicht, Martas Regeln. Marta zahlte hier wöchentlich, nicht täglich. Sie spuckte ein Lachen aus und erklärte natürlich nichts.
[Was wolltest du mit mir, Marta? Warum ich? Wer war ich denn? Ich passe doch gar nicht zu dir, Marta, ich funktioniere, esse Müsli und Gemüse, ich achte auf meinen Körper, gehe zum Arzt, gieße meine Pflanzen, bügele meine Hosen, lese Zeitung, höre Radio, kaufe Tickets im Bus und der Bahn, ich werde nervös, wenn Gäste in meiner Küche meine Ordnung stören oder ich es abends nicht mehr schaffe, zu spülen.]
Marta flatterte über den Bürgersteig vor mir her und irgendwann blieb sie stehen und schloss eine Tür auf, zog mich eine Treppe hoch und sagte: »Hier wohn ich, ich zeig dir mein Zimmer.« Eine riesige, zweigeschossige Wohnung, fünfter Stock, fünfeinhalb Zimmer, drei Balkone, eine ausgedehnte Küche.
Wie ich später erfuhr, gehörte Marta das ganze Haus, das war auch der Grund, warum sich die Nachbarn so selten beschwerten, obwohl immer Trubel bei ihr war. Jeden Abend kamen Menschen zu Marta, mal fünf, mal zehn, zu ihren Partys kamen Hunderte.
»Wohnst du bei deinen Eltern?«, fragte ich, als ich mich umsah. Ein Palast. Marta antwortete nicht, sie erzählte nur von dem Ausblick, den man von hier oben habe, von ihrem unverschämten Durst, davon, dass sie ihre Ratte füttern müsse. Ich sortierte mich in ihrem Raum, Marta klimperte in der Küche mit Eiswürfeln und Gläsern, dann donnerte von irgendwoher Musik los und Marta stand vor mir, zwei volle Gläser in der Hand: »Na Sdorowje!«, sagte sie, stieß an, trank ihr Glas aus und sah mich fest an. Ihr Kopf nickte in winzig kleinen, geschmeidigen Bewegungen zu dem dunklen Beat. Ihre Arme bewegten sich beiläufig, als würde eine Kugel über ihren Körper laufen. Ich hatte Marta gesehen und Polka hatte in meinen Ohren geklingelt, fröhliche Choräle, singende, steppende Männer mit lustigen, alten Gesichtern, Väterchen und dicke Babuschkas, Quetschkommoden und Flöten, schöne Frauen in bunten Kleidern. Stattdessen: Nackter, nüchterner Techno. Marta winkte mir mit dem Glas zu, nickte und stapfte vor mir durch ihre Zimmer, in der einen Hand die Ratte, in der anderen das Glas [Das habe ich dir nie gesagt, Marta, wie sehr ich mich vor Leberecht geekelt habe. Wie es mich angewidert hat, mit einer Ratte in einem Bett zu schlafen. Ein Tier mit Fell, in dem Parasiten und
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