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Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Titel: Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mairisch
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und gar nicht. Ich weiß nicht, wie man so aussehen kann. Es kam mir vor, als habe ihre Haut kurz vor der Pubertät beschlossen, keinen Quadratzentimeter mehr zu wachsen. Der Rest ihres Körpers aber, vor allem ihr Skelett, war gewachsen, drückte von innen gegen ihre Mädchenhülle und dehnte, überdehnte sie. Ihre Haut war geizig dünn über ein leicht gekrümmtes Gerippe gespannt.
     
    Fast ein Jahr lang hatte ich nur in der Bibliothek gesessen und gelesen und seit gut einem halben Jahr saß ich nun zu Hause und schrieb meine Diplomarbeit oder versuchte es. Ich ordnete meine Notizen, bastelte mir mühsam Thesen und hatte mir Tagesabläufe zurechtgelegt, strenge Pläne, damit ich auch wirklich arbeitete: Jeden Morgen stand ich um sechs Uhr früh auf und ging joggen, um Viertel vor sieben war ich zurück mit frischen Brötchen, ich hörte die Nachrichten im Radio, während ich duschte und in der Küche die Kaffeemaschine lief. Mit Kaffee an den Schreibtisch, um halb zwölf erlaubte ich mir, E-Mails zu lesen und zu beantworten, eine halbe Stunde lang. Dann ging ich für eine Stunde raus in die Stadt, aß in der Mensa und las ein bisschen in der Zeitung. Um eins saß ich wieder an meinem Schreibtisch, las, ordnete, versuchte zu schreiben, und um fünf gönnte ich mir eine kurze Pause. Ich schuf mir Rituale und Regeln, hangelte mich durch die Tage. Seit Monaten hielt ich mich sklavisch an diesen Plan.
    Ich traf keine Freunde, ich sprach kaum mit einem Menschen, ich erlebte nichts. Abends räumte ich meine Wohnung auf, putzte das Bad, die Küche, spülte das wenige Geschirr, das ich benutzte, saugte Staub, später lag ich wie tot im Bett und sah Quizshows und Krimiserien, zu mehr war ich nicht in der Lage.
    Und dann habe ich Marta gefunden. Sie saß an meinem Küchentisch, gähnte und sagte: »Lass uns frühstücken gehen, ich lade dich ein.« Es war längst Nachmittag.
     
    Also saß ich Marta gegenüber, in diesem kleinen Café, ihrem Café, in dem wir von diesem Tag an knapp fünf Wochen lang fast kein Frühstück in der Abenddämmerung ausgelassen haben. Es war voll und laut und man hätte sehr laut sprechen müssen, wenn man sich hätte unterhalten wollen, aber wir sprachen nicht, wir saßen uns nur gegenüber und lächelten uns an. Marta sah mitgenommen aus, aber sie hatte etwas Leuchtendes, das ich einfach gerne ansah. Ich habe sie vom ersten Moment an genossen. Und das nicht, weil Marta schön ist, das sicherlich nicht. Vielleicht aber, weil ich sofort wusste, dass es die letzte Gelegenheit war. So wie man einem seltenen Tier zusieht, dem letzten seiner Art, um später den Kindern und Enkeln wenigstens noch davon berichten zu können. Ich habe alles abgespeichert in meinem Kopf, ich kann alle Momente aufzählen, auswendig aufsagen. Martas kleine Show, Marta, die sich nicht benimmt, am Morgen dasitzt und minutenlange, gaumensprengende Gähnanfälle hat oder in der U-Bahn halb schlafend an ihren Schnürsenkeln zerrt, den Fuß hebt, sodass jeder unter ihren Rock sehen kann, die Innenseite ihres Schenkels bis zum Dreieck ihrer weißen Unterwäsche. Unerotisch mädchenhaft, nicht schamlos, sondern merkwürdig unbewusst. Oder gleichgültig, weil ihre klapprigen Storchenbeine mit den Flecken sowieso keinen Reiz mehr hatten? [Ich habe dir so genau zugesehen, Marta, mit einem Blick, den ich vor dir gar nicht kannte. Mit der Klarheit der zukünftigen Erinnerung. So wie ich mich erinnern würde, dich gesehen zu haben, verstehst du mich?]
     
    Die Sonne ging gerade unter und Marta bestellte Kuchen, sieben Stücke, und Red Bull. Das war ihr Frühstück, jeden Tag, den ich mit ihr verbracht habe: Sie bestellte abartig viel Kuchen, auf einzelnen Tellern, die vor ihr auf dem Tisch standen und von denen sie kaum etwas aß. Ich weiß nichts von Marta, ich weiß nicht, woher sie kommt und wie sie ihr Leben verbracht hat. Aber wahrscheinlich aß Marta schon immer Kuchen zum Frühstück, sie bestellte ihn mit einer Selbstverständlichkeit, die das nahelegte.
    Zwei Minuten lang war es still, Marta musterte, über die vielen Teller gebeugt, die verschiedenen Kuchenstücke, roch an ihnen, lächelte selig. Dann brach sie hier und da ein Eckchen ab und steckte es sich in den Mund.
    Eine widerliche Kombination, Pflaumenkuchen und Red Bull, ich verzog das Gesicht, Marta spülte den Brei in ihrem Mund herum, schluckte und grinste mich an. Sie räusperte sich laut und fing an zu husten, versank in sich und arbeitete irgendwas aus den Tiefen

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