Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen
Läuse und sonstiges Ungeziefer nisten, mit einem fleischigen, nackten Schwanz, der aussieht wie Aas, wie ein fetter, toter Wurm, wie abgenagt. Wie ich jedes Mal schreien wollte, wenn er sich in der Nacht zwischen uns schob, unsere Wärme suchte, seinen Platz beanspruchte. Ich begreife das nicht, warum du dieses Tier haben musstest, Marta, das ist widerlich]. Sie setzte sich auf ihr Bett und klopfte neben sich auf der Matratze herum.
»Setz dich«, sagte sie. Ein riesiger Raum, eine riesige Matratze, Boxen, eine alte Anlage. In der einen Ecke ein Hügel von Klamotten, in der anderen ein großer Spiegel, davor eine Bananenkiste mit Kosmetik. Sonst nichts.
»Du kannst hier mit mir im Bett schlafen«, sagte sie. »Und deine Sachen kannst du da vorn ins Regal stellen.« Marta zeigte auf ein klappriges Regal zwischen den zwei riesigen Fenstern. »Was du findest, kannst du benutzen, was du essen willst, kannst du essen.«
Später lagen wir in ihrem riesigen Bett, das immer nach Schlaf roch, ungelüftet wie das Bett eines sechzehnjährigen Jungen. Lagen uns gegenüber, an Kissenberge gelehnt. Marta trank und musterte mich. Ich war erstaunt, wie viel in sie hineinpasste, denn wenn man Marta ansah, sollte man meinen, zwei kleine Gläser Schnaps würden reichen. Aber Marta trank und trank. Sie trank, als ginge es darum, irgendetwas aufzufüllen. Sie trank wie andere schlafen, tief und fest, gegen die Müdigkeit. Marta war Alkoholikerin, nach normalen Maßstäben, aber darum ging es bei ihr längst nicht mehr. Es ist keine Entschuldigung, aber sie war gesellig und freundlich, witzig, laut und angenehm, wenn sie trank. Das Wippen ihrer Füße nach dem ersten Schluck Wodka am Morgen – zum Verlieben. Ihr unerschöpflicher Vorrat an Trinksprüchen, ihr Radius, der mit jedem Schluck wuchs, als wollte sie sich mit ihren übertriebenen Gesten in den Raum graben, Wurzeln schlagen.
An diesem Abend bin ich bei Marta eingezogen.
[Wie konnte das passieren, Marta? Dass ich bei dir landete, dass ich einfach mitging und hängen blieb, dass ich mein Leben auf Eis legte und mich in deine Welt stürzte, ich begreife es nicht. Dass ich dir aufhalf, dich mitnahm, dir Kaffee kochte und Creme gab, ja. Aber der Rest?]
Wir rauchten den ganzen Nachmittag, hängten unsere Arme aus dem Fenster, das Kinn auf die Fensterbank gelegt, glotzten in den Nachmittag, der Abend wurde und schließlich Nacht.
»Erzähl mal was, Paul«, sagte Marta. »Wo kommst du her?«
»Norden«, sagte ich, »Friesland.«
Und Marta stieß einen Ton aus, der klang, wie wenn man mit der flachen Hand auf den Mund einer leeren Flasche schlägt.
»Wirklich?«, rief sie. »Da war ich noch nie! Erzähl!«
Und ich erzählte ihr von zu Hause, von meinem Vater, unserem Hof, den Tieren. »Ein richtiger Bauernhof?«, fragte Marta, als gäbe es so etwas nur in Filmen oder uralten Büchern. Ich nickte und sie wollte wissen, was ich werden wollte und warum kein Bauer. Wie das sei, auf einem Hof zu leben, was mein Vater für ein Mensch sei, wie so jemand tickt, ein Landwirt , als sei das etwas Exotisches.
»Mein Vater«, sagte ich und erzählte Marta von dem alten Mann, dem Kettenraucher und Morgenmuffel, meinem einsamen Vater, der den eigenen Hof nicht mehr halten kann und darüber immer gnaddeliger wird. Martas Mund stand offen, ich sagte: »Der wird langsam tüddelig. Und wenn er was versuust hat, schiebt ers mir in die Schuhe und ist mucksch.«
»Mucksch!«, rief Marta.
»Ja.« Ich kapierte und machte weiter: »Beim Essen ganz ein Krüscher, isst nur Snirtje oder Knipp, da wirst du rammdösig, für so einen zu kochen!«
»Rammdösig!«, raunte Marta andächtig. [Wie du dich nächtelang nur auf Norddeutsch, oder was du dir darunter vorgestellt hast, mit mir unterhalten hast, Marta. Und wie schlecht du den Ton getroffen hast, wie albern und fremd das geklungen hat, wie bescheuert und honigsüß.]
»Schnurrbart«, sagte ich, »Hut, Gummistiefel. Wenn ich ihn besuche und in den Arm nehme, dann rieche ich den Hof sofort, den Mist, das Stroh, den feuchten Muff.« Ich sagte Marta, dass mein Vater mich sehr liebt, und das, obwohl ich den Hof nicht weiterführen wollte. Er liebt mich, er hat nur keine Ahnung, was man mit dem Gefühl anfängt. Ich erzählte ihr grinsend, wie laut er sein kann, wie fünsch und rumpelig mit seiner Kodderschnauze. Mal flucht er wild und wirft die Forke durch den Garten, mal redet er tagelang kein Wort und sitzt nur in der Küche und drückt seine
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