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Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Titel: Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mairisch
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Minuten nicht gepolsterte Fäuste hinterlassen hässliche Spuren. »Dixi, Dixi!«, johlen die zwei. Sie lachen wie blöde, der Russe stöhnt, die Svetlana weint in ein Handy. Ich denke an Catchen und Free Fight, an den Finishing Move, aber eigentlich will ich einen Gegner und kein Opfer. Ich dreh mich um zu Bonobo und sage leise: »Geht schon.« Dann springe ich ab und liege in der Luft.

Marta
    Rummel rummel röten
    giv me n Pott voll Pföten
    [Ich wollte dich doch noch entführen, Marta. Ich wollte dich doch noch einpacken und verschleppen. Dich erst auspacken an einem Ort, an dem du in Sicherheit wärst. Ich wollte dich noch aufpäppeln und gesund machen, verteidigen und behüten. Ich wollte dich doch noch entführen, Marta, und ein Leben mit dir verbringen. Ich wollte am Tisch deiner Eltern sitzen und mir Geschichten erzählen lassen von dir als Kind. Ich wollte noch mit dir verreisen, mit dir Herbst und Winter erleben, Äpfel pflücken, Kekse backen, Weihnachtsgans essen. Ich wollte mich doch auch unbedingt noch mit dir streiten, wenigstens ein Mal im Leben, sonst kennt man einen Menschen doch im Grunde gar nicht. Kenne ich dich, Marta?]
     
    1. Marta lässt sich finden
    givst me een
    bleev ick stehn
     
    »Wie heißt das noch mal?«
    »Was?«
    »Laufen und Saufen auf Norddeutsch?«
    »Rummelpottlaufen.«
    Und wie jedes Mal fing genau in diesem Augenblick, in dem ich das Wort aussprach, der Zirkus an. Marta warf den Kopf in den Nacken, krähte ein Lachen aus sich raus und machte kleine, schnelle Hopser mit beiden Beinen. Sie hob nur Zentimeter vom Boden ab und landete erstaunlich geräuschvoll für ihre achtunddreißig Kilo, die sie nur noch wog [Ich habe ein Kinderfoto von dir gefunden, da bist du ein lustiges kleines Mädchen mit dicken Backen, Marta].
    Sie zappelte mit den Armen, als wär sie Spastikerin und ich hatte jedes Mal Angst, sie könnte hinfallen und sich ihre dünnen Knochen brechen oder ihren Schädel. Meine Güte, hat sie sich aufs Rummelpottlaufen gefreut.
    »So was Ehrliches!« sagte Marta, weil man beim Rummelpottlaufen von Haus zu Haus geht und nichts anderes macht, als mit immer neuen Leuten zu singen und zu trinken. Man klingelt, die Leute kommen raus und man singt und betrinkt sich mit ihnen. So lange man kann oder ein bisschen länger. Fruken, mok de dör op, de rummelpott will rin, dann: Nich lang schnacken, Koppinnacken . So macht man das bei uns.
    »Ich liebe Friesland! Ich mag die Ehrlichkeit! Und die Poesie! In Russland würde man sagen: Laufen und Saufen! Verstehst du, Paul: Die gleiche Offenheit! Die gleiche Ehrlichkeit! Nur schöner gesagt. Wirklich, die Friesen und die Russen, ich glaube, das ist eine große Liebe!«
    Das hat Marta genau so gesagt, das werde ich nie vergessen. Denn danach hat sie mich lange mit ihrem nachdenklichen Blick angesehen, ganz so, als hätte sie gerade irgendwas von Bedeutung gesagt, das hat mich ganz durcheinandergebracht. Ich wusste nicht, ob ich lachen sollte oder ob sie das hier gerade ernst meinte. Aber Marta beugte sich ganz, ganz langsam zu mir rüber, zeitlupenartig, nahm den Blick nicht von mir. Und dann hat sie mich geküsst, ganz langsam und ganz zart, auf den Mund. Das war unser erster Kuss, Marta hat mich einfach geküsst. Und ich habe mich gefreut, dass sie es getan hat. Wir küssten nicht viel. Marta, alles andere als maßvoll, mit Küssen war sie sparsam.
    Wenn Marta küssen wollte, dann wollte ich auch, wenn Marta beschloss, eigentlich Friesin zu sein, war sie es, und wenn sie entschied, ihren Körper mit Drogen vollzupumpen, dann war das eben so.
    Ich hatte Marta gefunden. Wie sie im Morgengrauen schlafend in der Bahn lag, mit offenem Mund.
    Ich setzte mich in den Vierer ihr gegenüber, es war noch früh, die Bahn vollkommen leer. Ich sah sie an, wie sie da saß, zusammengeknickt zwischen den zwei Sitzbänken auf dem Boden, den Kopf an den Mülleimer gelehnt. Ihre fransigen braunen Haare hingen ihr vor den Augen. Unter meinem Arm klemmte eine Tüte Brötchen, es war kühl, aber ich trug meine kurze Hose, wie immer zum Laufen, an meinen Füßen die uralten Joggingschuhe, ich schwitzte. Solange ich noch Student war und ein Semesterticket hatte, konnte ich es mir leisten, nicht im Kreis zu laufen, und joggte also eine Strecke, stieg dann in die Bahn und fuhr zurück, das war viel angenehmer, als die immerselbe Strecke im Kreis zu laufen. Marta verschluckte sich im Schlaf, murmelte etwas Unverständliches und legte ihren Kopf auf die

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