Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen
pfannengroßen Hände abwechselnd aufeinander oder löst Kreuzworträtsel oder neuerdings Sudoku. Ich erzählte Marta, wie ich als Kind jeden Abend auf seinem Schoß gesessen und manchmal stundenlang seine Stirn massiert habe, wie ich versuchte, die tiefen Furchen aus seinem Gesicht zu bügeln. »Mein Vater ist der einzige Mensch, den ich kenne, der Zehncentstücke in seine Sorgenfalten stecken kann«, erzählte ich Marta, und dass er sie ohne Weiteres einen ganzen Abend lang darin festhalten kann. Keine Ahnung, wie er auf die Idee gekommen ist, das überhaupt zu probieren, ausgerechnet er! Mein Vater kann keinen Witz erzählen, ist absolut kein Quatschmacher, aber manchmal sitzt er abends da und drückt sich zwei Zehncentstücke in die Stirn. Sagt kein Wort dazu, guckt kein bisschen anders, hat einfach zwei Münzen im Gesicht. Er nennt sie Stirntaler . »Dass er mich liebt, merke ich, wenn ich nach Hause komme«, sagte ich, »er wills gar nicht zeigen, aber er kann nicht anders.« Ich sehe ihn vor mir in der kleinen, dunklen Küche sitzen, er redet nicht, guckt nur manchmal zu mir rüber und irgendwann kann er es nicht mehr halten, da platzt ein kurzer, lauter Lacher aus ihm raus. Dann hält er sich den Mund selbst zu und sieht aus dem Fenster und danach mich an, ganz kurz.
Marta lachte nicht, Marta wieherte wie ein Pferd. Ungefähr in der Mitte kippte es um in ein Röhren, das klang, als hätte man ihr mit einer Kanone einen Fußball in den Bauch geschossen. Selbst wenn man Marta wirklich mochte, ihr Lachen konnte man nicht mögen, es klang wie etwas, das nicht aus einem Menschen kommen sollte.
Marta sagte dazu nur: »Na und, mir doch egal!« Aber ich wusste, dass es ihr nicht egal war, weil sie nämlich doch eitel war, auch wenn sie es manchmal vergaß. Sie konnte es nicht ertragen, wenn es jemanden gab, der sie nicht auf irgendeine Art faszinierend fand. Deshalb erklärte sie ihr grässliches Lachen mit einer Geschichte. Sie erzählte sie gerne und ausführlich. Zum Beweis dieser Geschichte hatte sie sich von irgendwo eine uralte, abgenudelte Kassette besorgt. Typisch Marta, sie hatte sich eine wilde Geschichte daraus gestrickt: Sie sei bei Taubstummen aufgewachsen. Ihre Eltern seien Gehörlose.
Sie widerte mich an. Ihre kleinen, schnellen Bewegungen, diese lauernde Haltung, im Schlepptau der nackte, überlange geschuppte Schwanz, dunkel und kalt. Sie war überall. Das Einzige, was ich über Ratten weiß: Dass sie in Familien leben, dass man sie nicht alleine halten darf. »Marta«, sagte ich. »Hast du eigentlich nur eine Ratte?«
»Nö«, sagte Marta. »Ich hab ja noch dich.«
Sie wohnte in Martas Taschen, ihrem Pullover, ihren Kapuzen und in ihrem Zimmer. Die Ratte war überall, im Bett, unter den Kissen, sie huschte durch die Küche, wenn man aß, sie saß in den Ecken der Zimmer und wackelte mit den Ohren oder verkroch sich irgendwo, man sah sie gar nicht, hörte aber ihr Zähneknuspern.
»Ein Zentimeter!«, rief Marta. »Die wachsen einen ganzen Zentimeter pro Monat, die Schneidezähne, darum knuspern die so rum.«
Alle Möbel und Gegenstände, Bett, Tisch, Lampe oder Handy, ihr ganzes Zimmer und alles, was sie aus ihrer Handtasche hervorholte: Es war angenagt. Ich gruselte mich vor der Ratte, sie konnte Schränke, Kommoden, lackierte Stuhlbeine senkrecht hochlaufen. Und sie kam nicht, wenn ich sie rief oder irgendjemand anderes. Sie hörte nur auf Martas Stimme.
Ich weiß noch genau, wie Marta auch am zweiten Tag mit ihrem Frühstück vor mir saß, die sieben kleinen Teller mit Kuchen vor sich auf dem Tisch, ein dickes Grinsen im Gesicht. Wie sie von jedem Stück Kuchen nur ein kleines Gäbelchen nahm und dann alles von sich schob. Sie rauchte ununterbrochen und schüttete Red Bull oder Wodka oder beides zusammen in sich hinein.
»Marta!«, sagte ich. »Du musst was essen, was Richtiges!«
Sie legte den Kopf schief, langsam, wie eine Bahnschranke, und sagte: »Paul!«
Wir haben nie wieder darüber geredet. So war sie auch, eine Bestimmerin [aber es ging ja auch um dein Leben, Marta, natürlich, das ist wahr]. Sie hatte sich entschlossen zu scheitern, und das würde sie durchsetzen. Ich musste es akzeptieren, als Entscheidung oder als Haltung oder einfach als Ergebnis aus Marta und wie sie mit der Welt in Berührung gekommen ist.
Marta hielt mir einen Schlüssel unter die Nase und sagte: »Nimm. Der passt oben und unten.« Dann stand sie auf. Ich steckte den Schlüssel in meine
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