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Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Titel: Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mairisch
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Hosentasche, legte mein Handy auf den Tisch neben unserem und dann gingen wir los. Wir ließen den ganzen Kuchen zurück, die halb vollen Gläser und Tassen, nicht der Rede wert.
     
    Ich liebte es, mit Marta aufzustehen. Nachmittags die Gardinen aufzuziehen, den Aufstehtanz zu tanzen, die Musik so laut, dass ich jedes Mal Angst hatte, die Polizei würde die Tür aufbrechen und die Anlage konfiszieren. Aber so schnell rückte die Polizei nicht an. Vier Minuten Tanz und Geschrei. Dann Stille. Und Marta stand in diesem riesigen, hellen Zimmer auf den wunderschönen alten Dielen und hielt sich die Brust. Nackt und schwach lehnte sie gegen die Wand oder hielt sich am Vorhang. Sie schnappte nach Luft, sie röchelte, versuchte zu lächeln und musste husten. Marta lachte und ihr Husten überschlug sich. Ihr roter Kopf, die Adern an den Schläfen, sie war sechsundzwanzig Jahre alt. Wenn sie ausatmete, kam ein Pfeifen aus ihrem Brustkorb und sie musste sich setzen. Sie war mager und ihre winzigen, nackten Brüste sahen aus wie Rosinen.
    Dann warf sie sich ein knallgelbes Kleid über, zog grüne Stiefel an und einen Schal, den sie sich mehrmals um den Hals wickelte und der immer noch zu beiden Seiten fast auf den Boden fiel. Mit der linken Hand tippte sie auf das Bett und murmelte irgendwas. Kleine, schnelle Bewegungen unter der Decke, dann kam die Ratte unter einer Ecke hervor. Marta hielt ihr die Hand hin und Leberecht kletterte über Hand und Arm und verschwand irgendwo in ihrem Kleid, unter ihrem Schal. »Braucht extraviel Liebe«, sagte Marta zu mir, »braucht extraviel Wärme«, erzählte sie jedem, »seit der Lungenentzündung. Hat er grad erst auskuriert.«
    Dann konnten wir los. Draußen auf der Straße griff Marta meine Hand.
    »Paul, ich will keinen Arzt, klar?«, sagte sie.
    »Klar«, sagte ich.
     
    2. Marta weint nicht
    givst me twe
    will ick gehn
     
    Marta liebte Friesland, dabei ist sie nie in Friesland gewesen. Marta war überall, jedenfalls behauptet sie das, in New York und Rio, Saudi-Arabien, Mexiko, Johannesburg. Sie war in Neuseeland, Indien, auf Grönland, im Vatikan, aber nie in Schleswig-Holstein, Niedersachsen oder Hamburg. Für Marta war ich Friesland, stellvertretend oder in Person. Sie schlief mit Friesland in einem Bett, sie schmuste und tanzte mit Friesland, sie kiffte, rauchte und trank neben Friesland. Wer also, wenn nicht Marta, kannte Friesland? Und Marta hat mich wirklich gekannt, sie hat sehr schnell begriffen.
    Sie hat sich so darauf gefreut, meine Leute kennenzulernen, sie wollte in der Nordsee baden [Marta! Baden! Im Winter! Du kannst doch nicht mal schwimmen, obwohl du doch hundertprozentig in einem Haus mit Pool aufgewachsen bist!], sie wollte die Nordsee lieben, sie wollte rummelpottlaufen, saufen und feiern mit mir und mit lauter Leuten, die natürlich so sein mussten wie ich, weil sie von da kamen, wo ich zwanzig Jahre lang unbedingt wegwollte.
     
    Es regnete. Wir saßen trotzdem draußen, der dritte oder vierte Tag mit Marta. Ich hielt einen Regenschirm, mehr über Marta und den Kuchen als über mich. Als ich nass war und nicht mehr entspannt, wollte ich, dass wir endlich aßen und dann gingen, aber Marta wackelte hin und her und grinste und lachte die vorbeihastenden Menschen aus, die nass wurden, im Gegensatz zu ihr. Ich zog einen Teller zu mir hin, aß eilig, und Marta, obwohl der Tisch wie immer voll mit Tellern war, aß mit von meinem, wie immer. Sie liebte es, von dem zu essen, was ein anderer gerade aß.
    »Du kannst das bestimmt.« Marta kniff die Augen zusammen und ich wusste nicht genau, was sie meinte. »Milch machen!«, sagte sie. »Kuheuter bedienen, du bist so einer, vom Land, ihr könnt das doch alle in Friesland, oder? Das ist doch n Schulfach bei euch. Was hattest du? Ne Eins in Milch? Hast du Zeit heute, Paul? Nein, ich hab Euterprüfung!« Sie schlug sich auf den Schenkel, beugte sich vornüber und stieß lachend Rauch aus. Sie trank Red Bull, von Zeit zu Zeit brach sie ein Stück vom Kuchen ab und steckte es sich in den Mund oder in den Ärmel. Wenn Leberecht sich die Krümel holte, quiekte Marta und grinste. Wenn Marta kaute, dann sang sie. Das machte sie immer, wenn sie aß, sie sang, leise und mit offenem Mund. Eine kleine Melodie, die ich nicht kannte, vielleicht ein russisches Kinderlied oder so.
    Ich stelle mir vor, dass die kleine Marta das auch schon so gemacht hat, dass sie immer gesungen hat beim Essen. Ich stelle mir vor: Große Familienrunde,

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