Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen
schwer gedeckter Tisch, Wodka, und mittendrin singt die pausbäckige Marta mit vier Pelmeni im offenen Mund. Als wenn das ganz natürlich zusammengehören würde, singen und essen. Wahrscheinlich war Marta schon als Kind laut und überdreht, musste herumturnen, singen, schreien, kreischen, quieken, krächzen. Ich sehe sie vor mir auf russischen Festen, ich höre die Musik, das Akkordeon, die kurzen, hellen Plingplings der Balalaika, den schweren Chor der Männer und Frauen, ich habe das alles im Ohr, diese Sprache, von der ich kein Wort verstehe, das röhrende Lachen aus offenen Mündern, und ich sehe Marta inmitten all dieser fleischigen, herzlichen, rotgesichtigen Russen, die ihre Wodkagläser ausgelassen aneinanderrammen, dass es ein Wunder ist, dass sie nicht splittern, die mit den Fingern essen und sie schmatzend ablecken, dass es ein lautes Geräusch macht bei jedem Finger, den sie aus dem Mund ziehen. Auf den bebenden Dielen sehe ich Alkoholpfützen, deren Oberfläche zittert vom russischen Sitztwist, vom Stampfen und Steppen, vom Hüpfen und Schenkelschlagen. [Ich sehe dich dort stehen, mit großen Augen, offenem Mund, staunend, lachend, dabei zu sein ist alles, ich weiß. Ich sehe dich, ich höre dich deutlich, deine Stimme, deine kleine große Stimme, schräg und anders, passend und nicht, du bist die singende Säge auf dem russischen Wohnzimmervolksfest. Deine Eltern sind nicht taubstumm, Marta, erzähl keinen Unsinn.]
Marta schlief noch. Ich weiß nicht, wie lange ich ihr dabei zugesehen habe. Wie sie dalag und zuckte, ein unregelmäßiges, fast musikalisch wirkendes Zucken. Ich spielte ein Spiel mit mir selbst: Ich riet, wo sie als Nächstes zucken würde, welcher Teil von Marta. Die Lippe, das Lid, der Zeh, ihr Arm, der Daumen. Ich riet kein einziges Mal richtig. Die Sonne schien durch das offene Fenster, Leberecht huschte von Zeit zu Zeit durch den Raum, jedes Mal erschrak ich. Marta schlief, nur das Zucken und ihre rasenden Augäpfel unter den Lidern verrieten, dass sie lebte, träumte, dass sie nur schlief. So lag sie vor mir, wie das Ende einer Geschichte, deren schönste Momente ich längst verpasst hatte.
Ich stand auf und ging in die Küche. Dort stand ein Typ. Verschlafenes Gesicht, verwuschelte Haare, sympathisches Lächeln, ein cooler, blonder Schnurrbart. Er hantierte an der Kaffeemaschine herum.
»Kaffee?«, fragte er.
»Was machst du hier?«, antwortete ich.
»Kaffee.« Er grinste, hielt mir einen Becher hin und sagte: »Liviu. Wohn oben unterm Dach.«
»Hat hier eigentlich jeder nen Schlüssel?«, fragte ich.
»Nee, bin der Einzige, soweit ich weiß.«
»Bist du ihr Freund?«, fragte ich. »Martas Freund?«
»Quatsch. Ihr Hauswart, so was, Boy, Handwerker, Putze.« Er lachte. »Und du?«
»Paul.«
»Was machst du hier, Paul?«
»Ich wohne hier.«
»Ah, Willkommen!«, Liviu lachte und rührte klimpernd Zucker in seinen Kaffee. »Wie lange bist du schon hier? Hab dich noch nie gesehen.«
»Woche.«
»Und warum? Ich meine: Was machst du?«
»Marta«, sagte ich und sah mir Liviu dabei genau an, seine Reaktion. Aber er nahm nur einen großen Schluck Kaffee und schaute mich über den Rand seines Bechers aus freundlichen Augen an. »Passe bisschen auf sie auf«, sagte ich.
»Fesselst sie ans Bett, oder wie?«
»Bist du ihr Ex?«
»Quatsch, nein, Mann. Ich kenn sie erst ein halbes Jahr. Da war sie auch schon so.«
»Wie?«
»Krank.«
»Ich kenn sie erst eine Woche.«
»Und, bist du ihr Freund, Paul?«
»Vielleicht.«
Er legte den Kopf schief, grinste und nickte dann anerkennend. »Okay. Respekt.«
Sein freundliches Gesicht, auf das ich plötzlich einschlagen wollte [Ich, Marta! Der ich mich schon auf dem Schulhof aus jeder Rangelei rausgehalten habe, der nie, nie aggressiv ist, wütend vielleicht, aber nie gewalttätig, Pazifist aus Feigheit.] Wie er über Marta redete, als müsse man sich vor ihr hüten, als sei sie ansteckend [Eine Frage, die noch nicht geklärt ist übrigens, Marta. Ob du ansteckend warst.]
»Ich müsste so lange Haare haben, bis zum Arsch«, sagte Marta, »ich hab mir noch nie die Haare geschnitten, also nur hier vorn, die Stirn, weißt du, der Rest wird einfach nicht länger.«
»Weil du sie abkaust, Marta.«
»Kann schon sein«, sie nickte. »Und ich wette, ich hätte mindestens 85 B, meine Mutter hat so richtige Titten.« Sie malt sie mit den Händen vor ihrer eigenen abwesenden Brust in die Luft.
Marta war ein Whirlpool, blubbernd,
Weitere Kostenlose Bücher