Gestohlene Leidenschaft
Kunstwerke betrachtete.
Von Leda und dem Schwan hatte sie bereits viele ausgezeichnete Kopien gesehen. Das Original, denn darum handelte es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, war auf drei Holztafeln gemalt. Die Tafeln hatten sich voneinander gelöst. Dieser Umstand war bereits vor vierhundert Jahren dokumentiert worden. Irgendjemand hatte das Gemälde sehr kunstfertig repariert. Nur bei genauem Hinsehen konnte man die Stellen erkennen, wo die Tafeln wieder zusammengefügt worden waren. Das Gemälde war atemberaubend. Leda war in ihrer nackten Sinnlichkeit, doch mit jungfräulich, schamhaft gesenktem Kopf dargestellt. Ihr Gesicht war abgewandt, als versuchte sie, den Avancen des verschlagenen Schwans zu widerstehen. Nur um ihren Mund spielte ein sinnliches, verstohlenes Lächeln, das an das der Mona Lisa erinnerte. Gefiel ihr die Aufmerksamkeit, mit der Zeus sie bedachte? Ahnte sie, wie viel Leid ihr bevorstand?
„Ach, hier bist du.“
Grace zuckte zusammen. Inzwischen hatte sie sich von dem Gefühlsausbruch erholt, den der Kuss ausgelöst hatte, und empfand nur noch Resignation. Damit konnte sie umgehen.
„Findest du, dass sie glücklich aussieht?“, fragte sie mit Blick auf Leda.
Khalis betrachtete eingehend das Bild. „Ich glaube, sie ist sich ihrer Gefühle nicht sicher und weiß nicht, was sie will.“
Ohne den Blick von Leda abzuwenden, sagte Grace leise: „Ich kann mich nicht auf dich einlassen. Nicht einmal auf einen Kuss.“
„Kannst du nicht, oder willst du nicht?“
„Beides.“
„Warum nicht?“
Sie atmete tief durch. „Weil es unprofessionell ist, etwas mit einem Klienten anzufangen.“
„Aus diesem Grund hast du aber nicht fluchtartig den Pool verlassen“, warf er ein.
„Es spielt keine Rolle. Ich möchte nicht mehr darüber reden.“
„Du fühlst dich zu mir hingezogen, Grace.“
„Das ist unwichtig.“
„Vertraust du mir noch immer nicht? Hast du Angst … vor mir?“
Jetzt drehte sie sich doch zu ihm um. Lässig und überwältigend attraktiv stand er da in seinen ausgeblichenen Jeans und einem grauen T-Shirt. Das blauschwarze Haar war zerzaust. Rätselhaft lächelnd begegnete er ihrem Blick.
„Ich habe keine Angst vor dir, Khalis.“ Sie fürchtete sich nur davor, wieder jemanden in ihr Leben zu lassen, der ihr Herz eroberte und Macht über sie erhielt. Außerdem musste sie an Katerina denken. Es gab so viele Gründe, die gegen eine neue Beziehung sprachen.
„Wovor dann? Ich weiß, dass jemand dir sehr wehgetan haben muss.“
Grace lachte traurig. Offensichtlich hatte er sich sein eigenes Bild von ihr gemacht. „Und woher willst du das wissen?“
„Das ist deinem Verhalten anzumerken.“
„Ist es nicht!“ Natürlich war sie verletzt worden, aber nicht so, wie er glaubte. So einfach war das nicht. Sie war nie ein unschuldiges Opfer gewesen. Doch sie wollte nicht darüber sprechen, was ihr passiert war, weil sie fürchtete, Khalis könnte sie verachten, wenn er die Wahrheit über sie erfuhr.
„Warum kannst du deinen Gefühlen nicht nachgeben, Grace? Es war doch nur ein harmloser Kuss.“ Unnachgiebig musterte er sie, während er äußerlich völlig entspannt wirkte.
Sehr widersprüchlich, dachte sie und fragte sich, welcher der wahre Khalis war. Der einfühlsame Mann, der ihr die Füße massiert hatte, oder der zornige Sohn, der sich weigerte, um seinen Vater zu trauern? Oder versteckte auch er seine wahren Gefühle hinter einer Maske? So wie sie selbst es tat.
Es war müßig, darüber nachzudenken. Ihre Beziehung zu Khalis Tannous musste rein geschäftlich bleiben. „Es ist zu kompliziert, um es dir zu erklären“, antwortete sie knapp. „Aber wenn du im Internet nachgesehen hast, weißt du ohnehin Bescheid.“
„Ist das eine Einladung, Grace?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Tu dir keinen Zwang an.“
„Ich bin kein Internet-Stalker. Mir wäre es lieber, die Wahrheit von dir selbst zu hören.“ Als sie nicht reagierte, fuhr er sich frustriert durchs Haar.
„Ich sollte jetzt weiterarbeiten, Khalis.“
„Um diese Zeit?“
„Wenn ich jetzt erste Tests mache, hast du morgen oder übermorgen genug Informationen zur Verfügung und kannst die Justizbehörden einschalten.“
„Willst du das?“
Wie er sie ansah! Am liebsten hätte sie sich in seine Arme geworfen und ihm alles erzählt. Sie sehnte sich so sehr danach, sich geborgen und begehrt zu fühlen.
Doch damit würde sie sich unweigerlich neuem Schmerz und neuer
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