Gestohlene Wahrheit
auf zu reden.
Sie sah sich hektisch nach einem Mülleimer um. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis sie sich übergeben musste.
Becky schien ihren Gesichtsausdruck richtig gedeutet zu haben, denn sie sprang auf und hielt Ali, noch bevor sie zu würgen begann, einen Plastikmülleimer unter die Nase.
Der erste Schwall beförderte die Cola wieder zutage, der zweite war blau von der unterwegs getrunkenen Limo.
Während sie auf die herausgewürgte Flüssigkeit hinabstarrte, die zerknüllte Papiere und weggeworfene Haftnotizen durchtränkte, wurde ihr klar, dass sie so heftig reagiert hatte, obwohl ihr Frank zweifellos nur die kurze, bereinigte Version der Ereignisse geschildert hatte. Falls Geschichten über Folter jemals kurz und bereinigt sein konnten.
Heilige Scheiße.
Der Speichel sammelte sich heiß und sauer in ihrem Mund, aber sie musste sich nicht noch einmal übergeben. Ein Glück. Als hätte sie heute nicht schon genug Erniedrigungen ertragen müssen, hatte sie jetzt auch noch ihren Mageninhalt vor den Augen dieser Männer und Frauen, die einen eisernen Willen und vermutlich auch eiserne Mägen besaßen, wieder ausgespuckt. Vermutlich dachten sie gerade, dass ihr Grigg aus gutem Grund niemals die Wahrheit gesagt hatte.
Sie hat das Rückgrat einer Qualle.
Großartig. Einfach großartig.
Vielleicht hatten sie sogar recht. Möglicherweise hatte Grigg daran gezweifelt, dass sie mit der Wahrheit leben konnte.
Das Bedürfnis zu weinen war wieder da, aber sie wurde dadurch abgelenkt, dass ihr jemand ein Tuch reichte. Sie schluckte ihre Scham und ihren Schreck herunter, wischte sich den Mund ab und stellte den Mülleimer auf den Boden.
Zögernd sah sie die Gruppe am Tisch wieder an und stellte beruhigt und demütig fest, dass in den Gesichtern der anderen weder Missbilligung noch Enttäuschung oder Ernüchterung zu erkennen war. Stattdessen sahen die meisten ebenso zerrissen aus, wie sie sich fühlte, und schon sammelten sich wieder die Tränen in ihren Augen. Sie blinzelte mehrmals und wünschte sich nichts mehr, als einen Augenblick lang allein sein zu können. Doch das war leider nicht möglich, wenn sie herausfinden wollte, was eigentlich los war. Dazu musste sie hier sitzen bleiben und sich den Rest der Geschichte anhören, wie schrecklich er auch sein mochte.
Also holte sie tief Luft, faltete das Stück Stoff ordentlich zusammen und stellte die einzige Frage, auf die sie noch eine Antwort haben wollte: »Warum?«
»Warum sie gefangen genommen und gefoltert wurden?«, wiederholte Frank ruhig, als hätte er nicht die letzten Minuten mit ansehen müssen, wie sie komplett die Fassung verloren hatte.
Sie nickte, auch wenn ein kleiner Teil von ihr sich am liebsten die Finger in die Ohren gesteckt, den Kopf geschüttelt und leise »La la la« gesungen hätte. Manchmal war Unwissenheit wirklich ein Segen, aber sie hatte einen zu weiten Weg hinter sich, um jetzt noch aufzugeben. Sie wollte alles wissen. Sie
musste
alles wissen.
Frank sah auf seine großen Hände hinab, legte sie langsam um seine Kaffeetasse und schüttelte den Kopf. »Das wissen wir nicht. Soweit wir es beurteilen können, waren sie einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Terroristen, die sie entführt haben, sollten in dieser Region gar nicht operieren, da Syrien und der Libanon ja nicht gerade freundschaftlich gesinnte Nachbarn sind. All unsere Quellen deuten darauf hin, dass es einfach nur Zufall war. Riesengroßes Pech. Grigg und Nate waren auf dem Weg zu ihrem Ziel, als ihr Fahrzeug von Kämpfern der Hisbollah überfallen wurde.«
Sie fing an zu zittern und richtete ihren tränenschweren Blick erneut auf Nate. Sein eckiges Kinn mahlte, als würde er Granit zerkauen. Dann fiel es ihr wieder ein. »Oh mein Gott, ich habe dich an diesem Tag
geschlagen
. Du wurdest gefoltert, und ich
schlage
dich. Es … es tut mir so leid, Nate. Bitte verzeih mir.«
Sie hickste, und eine einzelne Träne lief ihre Wange herunter. Ihre Brust war so zugeschnürt, dass sie sich fragte, wie ihr Herz in der Enge überhaupt noch schlagen konnte. Sie hatte einen Mann geschlagen, einen Patrioten, der so viel geopfert hatte und erst vor Kurzem gefoltert worden war.
»Da gibt es nichts zu verzeihen«, brachte er heraus. »Ich bin derjenige, dem es leidtun sollte.«
Was?
Sie wischte sich die Träne mit zitternden Fingern weg. »Was denn? Was soll dir denn schon leidtun? Du kannst doch nichts dafür, dass du entkommen konntest und Grigg
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