Gestohlene Wahrheit
nicht.«
Becky machte ein ersticktes Geräusch, und Ali sah die junge Frau an. Sie wischte sich mit dem ausgefransten Saum ihres mit Schmiere und Farbe befleckten T-Shirts die dicken Tränen weg, die ihr über die geröteten Wangen liefen.
Was in aller Welt ging hier vor sich?
Der Schreck in den Gesichtern der Männer und das Leid in den Augen der Frauen konnten nicht nur darauf beruhen, dass Grigg tot war und sie zur völlig falschen Zeit Gewalt angewendet hatte.
»So«, sagte Dan leise und legte einen Arm um seine Frau, die ebenfalls weinte. »Wenn es nicht Brasilien und die Gefangennahme durch die Libanesen war, was dann? Vor diesen beiden Aufträgen war Grigg über zwei Monate lang nicht im Einsatz.«
Er wechselte das Thema. Ali begriff, dass man ihr etwas verschweigen wollte, und sie klappte schon den Mund auf, um zu fragen, was genau sie ihr nicht sagen wollten, doch Becky kam ihr zuvor.
»Nein«, verkündete die junge Frau entschlossen, während sich alle Augen auf ihr tränenüberströmtes Gesicht richteten. »Er hatte noch eine andere Mission. Einen kurzen persönlichen Sicherheitsjob für irgendeinen Senator.«
»Wie bitte?« Ozzie wandte sich von seinen Computern ab. »Ich wüsste nicht, dass ich dafür je eine Autorisierung gesehen hätte.«
»Das kam auch nicht über den üblichen Kanal. Es befand sich auf seinem Privatcomputer. Er war nur einen Abend lang weg und kam frühmorgens wieder nach Hause. Ich bin davon ausgegangen, dass er einfach irgendeinen Nebenjob angenommen hat.«
»Und das sagst du erst jetzt?«, brüllte Nate so laut, dass Ali zusammenzuckte. Sie hatte völlig vergessen, dass sie noch herausfinden wollte, welche dunklen Geheimnisse sie ihr vorenthielten, welches schreckliche Wissen dafür gesorgt hatte, dass sie alle so gequält ausgesehen hatten. »Er hat mir nie was davon erzählt«, meinte Nate aufgebracht.
»Du warst gerade mit Mac und Christian in Kolumbien«, erklärte Becky und wischte sich mit den Handrücken die Wangen ab.
»Woher weißt du überhaupt, was in Griggs persönlichen E-Mails steht, Rebecca?«, wollte Frank wissen.
»Äh …« Becky warf Ozzie einen nervösen Blick zu. Der junge Mann sah sie an, als wollte er ihr wortlos sagen: »Dieses Mal sitzt du echt in der Scheiße.«
Frank sah zwischen den beiden hin und her. »Was ist? Was habt ihr beide ausgeheckt?«
»Okay«, sagte Becky und kaute auf dem durchweichten Stiel ihres letzten Lollis herum. »Die Sache ist die, dass Ozzie und ich einen Austausch vereinbart haben. Ich zeige ihm, wie man einen Vergaser ausbaut, reinigt und wieder einsetzt, und er bringt mir das Programmieren bei. Ich erkläre ihm, wie ein Öltank hergestellt wird, und er lehrt mich das Hacken.«
»Und zum Hacken gehört das Knacken privater E-Mail-Konten?«, fragte Frank, dessen Gesicht so finster wie eine Gewitterwolke geworden war. »Rebecca! Verdammt!«
»Hey«, rief sie abwehrend. »Ich dachte, er steckt in Schwierigkeiten! Wir wollten uns an dem Abend eine Pizza kommen lassen und einen Film gucken, aber nachdem er seine E-Mails abgerufen hatte, meinte er auf einmal, er müsse mir absagen. Er schnappte sich seine Tasche und ein paar Magazine und machte sich aus dem Staub, als wäre ihm ein ganzes Rudel Höllenhunde auf den Fersen. Ich habe mir Sorgen gemacht, daher …« Sie zuckte mit den Achseln und schlang sich die Arme um den Körper. »… habe ich einen Blick riskiert.«
»Du hast
einen Blick riskiert
? In
private
E-Mails? Das ist
nicht
in Ordnung, Rebecca. Deine Nase ständig in Sachen zu stecken, die dich nichts angehen, wird dich eines Tages noch das Leben kosten. Hast du das verstanden? Sag mir bitte, dass du es verstehst«, forderte Frank sie auf, und Becky nickte pflichtbewusst und machte den Mund auf. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, machte Frank eine wütende Handbewegung. »Nein. Es reicht. Das ist das Ende dieser Diskussion.«
Becky klappte den Mund wieder zu und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, während sich auf ihrem Gesicht Trotz und Kummer abzeichneten. Ali konnte nicht anders, als Mitgefühl mit der jungen Frau zu empfinden. Sie verstand, wie man das Bedürfnis haben konnte, alle, die einem am Herzen lagen, zu kontrollieren, und sie wusste aus erster Hand, wie frustrierend es sein konnte, wenn einem das nicht möglich war. Ihr war außerdem klar, dass sie, wenn sie wie Becky die Möglichkeit gehabt hätte, unauffällig in Griggs Angelegenheiten herumzuschnüffeln, diese genutzt hätte, ohne auch
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