Gestrandet: Ein Sylt-Krimi (German Edition)
gerade recht gekommen war. Der Junge hatte sich wortlos ins Zimmer gedrückt und sich auf Mathis’ Schoß geschoben, aber Valerie hatte ihn heruntergezerrt, noch bevor Mathis’ Arme sich um Oles Körper schließen konnten. Angeblich musste sein Zimmer aufgeräumt werden, und das duldete keinen Aufschub. Valerie vergaß sogar, sich von Erik zu verabschieden, ehe sie die Tür hinter sich schloss.
Ach, Lucia, wenn ich doch mit dir über Valerie reden könnte! Oder würde ich es nicht wollen, wenn du noch bei mir wärst? Schon möglich. Vielleicht wäre mir dann gleichgültig, was sie sagt und tut.
Der Weg nach Braderup war schnurgerade. Zunächst trat Mamma Carlotta genauso kräftig in die Pedale wie Carolin, aber als die ersten Häuser am Straßenrand auftauchten, ließ sie das Rad ausrollen. So lange, bis es zu schwanken begann und Carolin rief: »Weiter, Nonna!«
Sie schien nicht zu merken, dass ihre Großmutter Angst vor ihrer eigenen Courage hatte. Mamma Carlotta gehörte in ihrem Dorf zwar zu denen, die dem Tierarzt zur Hand gingen, wenn er mit einer panischen Kuh nicht zurechtkam, und als Einzige dem Bürgermeister half, wenn er mal wieder von seiner eifersüchtigen Frau mit dem Küchenmesser bedroht wurde, aber was jetzt auf sie wartete, war anders. Fremd und ganz und gar unvertraut. Mamma Carlotta hatte noch nie einen Literaten vor sich gehabt. Was mochte das für ein Mensch sein, der sich Geschichten ausdachte und damit berühmt wurde? Was machte er anders als sie, die sich leidenschaftlich gern Geschichten ausdachte, aber niemals berühmt werden würde? Lag es an den Haupt- und Nebenhandlungen? Am Sprachrhythmus? An der substantivischen oder verbalen Erzählweise, von der sogar Fietje etwas wusste? Mamma Carlotta, die eigentlich ein normal entwickeltes und manchmal sogar übersteigertes Selbstbewusstsein hatte, war total eingeschüchtert.
Als sie hinter Carolin in den Bröns Wai einbog, war sie voller Angst, von dem Bestsellerautor mit Schimpf und Schande davongejagt zu werden. Carolin dagegen, die es bisher nicht einmal gewagt hatte, sich dem Haus zu nähern, sondern es nur aus der Ferne heimlich beobachtet hatte, war in Begleitung von Mamma Carlotta voller Zuversicht.
Das Haus des Schriftstellers verbarg sich hinter einer niedrigen Kiefernreihe. Es war klein und geduckt, die Fassade so dunkel wie die Kiefern, die sie versteckten. Auch das Tor, das in den Garten führte, war dunkel und unauffällig, die Klinke abgegriffen, rau von der Witterung, die sie aufgerieben hatte.
»Bist du sicher, dass hier Gero Fürst wohnt?«, fragte Mamma Carlotta, die ein imposantes Gebäude auf einem gepflegten Grundstück erwartet hatte.
Carolin nickte. »Ich bin ihm mal in Wenningstedt begegnet und ihm dann hierher gefolgt.« Als sie Mamma Carlottas enttäuschten Blick sah, fügte sie hinzu: »So was nennt man Understatement. Weil jeder damit rechnet, dass er in einer protzigen Villa wohnt, bleibt er hier unbehelligt.«
Das leuchtete Mamma Carlotta ein. »Sehr raffiniert.« Gern hätte sie sich noch eine Weile in dieses Thema vertieft, um die Abfuhr, mit der sie fest rechnete, noch ein wenig hinauszuschieben. Aber Carolin drängte sie: »Lass uns endlich anklopfen. Du hast es versprochen.«
Mamma Carlotta nickte tapfer und drückte die Klinke der Gartenpforte hinunter. Sie rüttelte und stemmte ihr Körpergewicht gegen das Tor – nichts. Es war verschlossen.
Sie gab sich große Mühe, Carolin ihre Erleichterung nicht spüren zu lassen. »Gero Fürst scheint sehr scheu zu sein. Wer schließt denn eine Gartenpforte ab, über die man ohne Weiteres klettern kann!«
Carolins Gesicht nahm einen kläglichen Ausdruck an. »Das tut nur einer, der niemanden an der Haustür stehen haben will. Ich glaube, Papa hat recht. Wir dürfen ihn nicht stören.«
Beinahe hätte Carlotta laut gejubelt. Aber da sie ihre Enkelin nicht verletzen wollte, zog sie ihre Stirn in kummervolle Falten und tat so, als dächte sie scharf darüber nach, einen anderen Weg in das Haus des Schriftstellers zu finden.
Das war der Moment, in dem sich das Fenster neben der Eingangstür öffnete und ein Mann herausschaute, mittelgroß, sehr schlank mit einem hageren Gesicht und dichtem, dunklem Haar, das er im Nacken lang trug. Er hatte ein dunkelgraues Hemd an, das er weder geschlossen noch in den Hosenbund gesteckt hatte. In seine Brusthaare hatte sich ein Kettchen gegraben, sein Körper war stark gebräunt. Den Arm trug Gero Fürst in einer
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