Gestrandet - Harvey, C: Gestrandet - Winter Song
Leben lang hatte er stets gewusst, was er tun musste, und in allen anderen Fällen bluffte er einfach. Diese Situation aber war völlig neu für ihn. Entweder war der Mann verrückt, oder aber er spielte seine Rolle sehr überzeugend. Ragnar stand auf und reagierte auf seine Angst – auch wenn er kaum jemals wirklich Angst verspürte – wie immer, indem er wütend und laut wurde. »Reiß dich zusammen!«, brüllte er.
Plötzlich wurden die Augen des Mann klar, und er zuckte zurück. »Wer, verdammte Hölle, bist du denn?«
5 Karl
5 0 KARL
Karl blickte auf den anderen Mann hinab. Huch, das hätte ich jetzt vielleicht nicht sagen sollen, dachte er. Der Mann, Ragnar – woher kannte er nur seinen Namen? – war bemerkenswert hässlich. Schwarzes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar wucherte wild auf seinem Kopf und spross ihm aus der Nase und sogar aus den Ohren, die aussahen, als wären sie ihm irgendwann einmal zerquetscht oder halb abgerissen worden. Zwischen zwei Schweinsäuglein unter buschigen Augenbrauen ragte eine gewaltige Knollennase hervor. Doch die Augen waren wachsam, und man konnte sehen, dass ihnen nichts entging.
Ragnar öffnete die Finger, die er in Karls Kittel gekrallt hatte, richtete sich zu seiner vollen Größe von 1,80 Meter auf und wölbte die Brust vor. Karl machte sich auf ein wildes Spektakel gefasst, doch Ragnar gewann mit sichtlicher Anstrengung seine Beherrschung zurück. »Ich bin der Mann, der dich sterbend im Schnee hätte liegen lassen können.«
Karl setzte einen zerknirschten Gesichtsausdruck auf. »Natürlich. Tut mir leid.«
»Ragnar Helgrimsson«, sagte Ragnar und streckte eine Hand aus.
»Karl Allman.« Karl betrachtete die Hand, registrierte die Röte, die Ragnar ins Gesicht schoss, und begriff, dass er ihn in seiner Verwirrung erneut beleidigt hatte. Instinktiv streckte er ebenfalls eine Hand aus. Ragnar umklammerte seinen Unterarm in Höhe der Ellbeuge und drückte kräftig genug zu, um Walnüsse zu knacken, bevor er seinen Griff wieder löste.
»Du wirst mich in meinem Zimmer aufsuchen«, sagte er und stolzierte steifbeinig aus der Scheune hinaus.
Karl stellte fest, dass Bera ihn mit offenem Mund anstarrte. Sie ließ die Schultern hängen, wie er geistesabwesend bemerkte, aber von einem leichten Schielen einmal abgesehen, hätte sie durchaus hübsch sein können, wären da nicht das zerzauste Haar, diverse nur halb verheilte Entzündungen und der Schmutz in ihrem Gesicht gewesen. »Ist mir vielleicht ein zweiter Kopf gewachsen?«, fragte er. Er lächelte, um ihr zu zeigen, dass er nur einen Witz gemacht hatte, doch ihr Schweigen und ihr Blick wurden ihm unbehaglich.
Sie floh regelrecht aus der Scheune.
»Aahh … Okay.« Karl massierte sich den Kopf und kratzte sich dort, wo der Kittel aus rauem Schafsleder, in den seine Retter ihn gesteckt hatten, auf seiner Haut juckte.
Sein Gefährte – die Mikroversion der Künstlichen Intelligenz des Schiffes in ihm – musste während seiner Genesung Daten gesammelt haben, was zur Folge hatte, dass ihm seine Umwelt jetzt weder völlig fremd noch richtig vertraut war. Er befand sich in einer Art Zwischenstadium.
Fakt: Er hielt sich eindeutig in einem für Tiere vorgesehenen, zurzeit aber leeren Gebäude auf, einem Stall oder einer Scheune, die etwa 40 Meter lang und 15 Meter breit war. Auf noch immer wackligen Beinen stolperte er zu einer Leiter hinüber, die in die Höhe führte, und starrte zu einer Zwischendecke hinauf. Vom Boden bis zum Dach waren es sechs bis sieben Meter.
Karl schlurfte unsicher weiter zur Tür und blickte einen Hang hinauf, wo sich ein niedriges Gebäude mit einem grasbewachsenen Dach halb eingebettet in die Flanke des mit Felsbrocken übersäten Hügels duckte. Hinter einem weiteren Haus, das rechtwinklig an das erste angebaut war, krochen einige Leute zwischen Heidesträuchern herum. Bera rannte gerade mit langen Sätzen auf sie zu. Karl hatte den Eindruck, nie zuvor eine trostlosere Landschaft gesehen zu haben, und wünschte sich beinahe, er hätte Isheimur verfehlt und wäre im Weltraum gestorben. Nein, das ist Blödsinn!
Während er in den mit grauen, stellenweise rosa schattierten wolkenverhangenen Himmel hinaufstarrte, erfasste ihn unvermittelt ein Schwindelanfall. »Bin wohl zu lange weg vom Fenster gewesen«, murmelte er leise. Seine Umgebung hätte ihm eigentlich nicht derart zusetzen dürfen, doch die Datenmengen, die sein Gefährte während seiner Genesung gesammelt hatte,
Weitere Kostenlose Bücher