Gestrandet - Harvey, C: Gestrandet - Winter Song
verkomplizierten seinen Geisteszustand. Die intensive Kälte ließ ihn zittern. In einigen Tagen würden die Nanophyten seine Reaktionen den neuen Gegebenheiten angepasst haben.
Er überquerte mühsam den freien Platz und sog dabei die dünne geruchlose Luft tief in seine Lungen ein. Sein Gefährte deutete an, dass der hier herrschende atmosphärische Druck in etwa dem des tibetischen Hochlands auf Terra entsprach, aber das war ohne Belang für ihn. Er hatte sich oft genug bei seinem Schiff darüber beschwert, dass sich sämtliche Messwerte an irdischen Normen orientierten, ohne damit irgendetwas zu erreichen.
Zwei Frauen, offenbar tief in ein Gespräch versunken, verstummten, als sie ihn bemerkten. Eine der beiden, die sich durch auffällig rötlich-blondes Haar und eine sinnliche Ausstrahlung auszeichnete, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Wieder gesund und munter, wie ich sehe.«
»Ja.« Karl hatte Mühe, beim Sprechen nicht zu keuchen.
Bera tauchte neben ihm auf. »Du solltest nicht allein im Freien herumlaufen. Es ist hier nicht sicher.« Sie nahm seinen Arm, als er stehen blieb. »Stütz dich auf mich.«
Er nickte ihr dankbar zu. Sie setzten sich wieder in Bewegung. »Sieht – aber – ungefährlich – aus«, sagte er schwer atmend.
»Die Dinge sind nicht immer so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Wie zum Beispiel Thorbjorg.« Sie deutete mit einer ruckartigen Kopfbewegung in Richtung der rötlich-blonden Frau, wechselte aber das Thema, bevor er sich erkundigen konnte, was sie damit meinte. »Warum warst du so unfreundlich zu Ragnar?«
»Lange – Geschichte.«
Bera blieb stehen. »Wir haben keine Eile.«
Wie viel konnte er ihr erzählen? Würde es irgendwelche Auswirkungen für ihn haben, wenn sie Ragnar berichtete, was sie von ihm erfahren hatte? Er beschloss, es mit der Wahrheit zu versuchen. »Als ich zehn Jahre alt war, zogen meine Eltern von einem Bezirk in einen anderen um«, begann er. »Das war so vorgeschrieben, um Inzest zu vermeiden.«
Bera sah ihn verwirrt an.
»Begrenzter Genpool«, erklärte er. »Jakob Attlee war ein Jahr älter als ich. Wir haben einander gehasst. Ich war ziemlich klein für mein Alter – ich bin nach der Pubertät noch einmal 30 Zentimeter gewachsen, aber damals war ich ein Zwerg –, und Jakob war groß. Injektionen mit Nanophyten hatten all sein Körperfett in Muskelmasse verwandelt.« Er fragte sich, ob er Bera erklären sollte, was Nanophyten waren, aber da sie nickte, fuhr er einfach fort: »Als Jakob erfuhr, dass ich meine ersten Injektionen bekommen hatte, wurden seine Schikanen richtig brutal.«
Die junge Frau legte den Kopf schief, als hätten seine letzten Worte ihr Interesse erregt. »Ein großer Mann wie du? Schwer vorstellbar, dass irgendjemand dich schikanieren könnte.«
»Menschen verändern sich«, sagte er.
»Diese Injektionen …«, hakte sie nach.
»Nanophyten heilen Verletzungen, bauen Muskeln auf und führen andere physische Verbesserungen herbei. Nachdem Jakob und seine Clique von meinen ersten Injektionen gehört hatten, schleppten sie mich in ein Versteck und hielten mich dort fest. Jakob hatte eine Flasche Bleich mittel gestohlen.«
Das schien Bera erneut zu verwirren.
»Seine Kumpels hielten mich fest, während er mir das Zeug einflößte. Vor den Injektionen mit den Nanophyten hätte es mir die Kehle verätzt und mich vielleicht sogar umgebracht, aber auch so wurden es die schlimmsten Schmerzen, die ich jemals erlebt hatte. Die Nanophyten begannen sofort damit, die Gewebeschäden wieder zu reparieren, was genauso schmerzhaft wie die Verätzungen selbst war. Und Jakobs Clique ließ mich nicht los, sondern sah zu, was mit mir passierte.« Er legte eine kurze Pause ein. »Nach einer Stunde wiederholten sie das Spielchen und dann noch einmal. Als sie mich an diesem Abend endlich laufen ließen, drohten sie mir damit, mich umzubringen, sollte ich irgendjemandem etwas von der Sache erzählen. Ich habe ihnen geglaubt.«
»Das ist traurig«, sagte Bera. »Aber was hat das mit Ragnar zu tun?«
»Ich hatte gerade von Jakob geträumt«, erwiderte Karl. »Ragnar sieht genauso aus wie eine ältere Ausgabe von Jakob. War das vielleicht die Methode, die der Gefährte benutzt hat, um Ragnars Aussehen zu verarbeiten?«, über legte er. »Die gleichen Schweinsäuglein und buschigen Augenbrauen … Als ich aufgewacht bin und dieses Gesicht wiedergesehen habe …« Er sah Bera verständnisvoll nicken und fragte: »Ist das von
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