Gestrandet - Harvey, C: Gestrandet - Winter Song
Troll erkennst, wenn er direkt vor dir steht?«
Du starrtest ihn an und versuchtest herauszufinden, ob die Frage mehr beinhaltete, als es im ersten Moment den Anschein hatte. Denn du hattest gelernt, dass die am schlichtesten klingenden Fragen manchmal tatsächlich die komplexesten sind. Es schien dir der Gipfel der Torheit zu sein, so viele Ebenen von Bedeutung in eine so uneffiziente Kommunikationsmethode wie die Mund- zu-Ohr-Informationsübermittlung zu packen. Diese Men schen sollten ihr Kommunikationssystem wirklich neu gestalten. Aber natürlich war das mit den begrenzten tech nischen Mitteln, die ihnen derzeit zur Verfügung standen, absolut unmöglich.
Du kamst zu dem Schluss, dass eine eventuell in der Frage verborgene zweite Bedeutungsebene für dich nicht zu entschlüsseln war, und beantwortetest die Frage deshalb ihrem direkten Inhalt gemäß. »Ja. Ich bin wirklich so beschränkt. Aber jetzt habe ich ›Troll‹ abgespeichert und werde ihn jederzeit wiedererkennen: eine einheimische feindselige Lebensform. Vernunftbegabte Kreatur?«
»Ganz und gar nicht!«, sagte Arnbjorn mit Nachdruck. »Welche vernunftbegabte Lebensform frisst sich denn gegenseitig?«
»Menschen fressen Trolle?«
»Natürlich nicht!« Der Hörige brach in schallendes Gelächter aus. »Sie fressen uns , du verdammter Blödmann! Wir bekämpfen sie seit Jahrhunderten, genau so, wie sie uns erbarmungslos abschlachten. Bei Thor, was für ein Trottel bist du eigentlich?«
»Ein menschlicher«, erwidertest du. »Ein genetisch optimierter.«
Du tauchtest erneut aus den Tiefen des Unbewussten auf, wieder ohne zu wissen, was – sofern es überhaupt eine Ursache gab – deine Rückkehr diesmal ausgelöst hatte. Du fandest dich in einem Raum wieder, von dem aus eine Treppe in ein höheres Stockwerk führte. In einer Ecke des Raumes stand ein weißer Kasten. Vor dir schweb te das Abbild von Bergen und Seen.
»Das ist Surtudalur, wo ich aufgewachsen bin«, sagte Bera. »Du kannst noch ein Ende des Bauernhauses unter dem Lavastrom hervorlugen sehen.«
Plötzlich verbarg sie die Karten ohne Vorwarnung. »Da kommt irgendjemand!«, zischte sie, zog dich in den angrenzenden Flur und die ersten Stufen hinauf, wobei sie dir eine Hand auf den Mund legte. »Wir könnten Schwierigkeiten bekommen, weil wir so viel Zeit hier verbracht haben«, flüsterte sie. »Papa sieht es zwar gern, wenn wir von dem Orakel lernen, aber nur die Dinge, von denen er will, dass wir sie erfahren. Psst, still jetzt!«
Du sahst, wie Ragnar das Arbeitszimmer betrat, einen Gegenstand unter den Arm geklemmt. Es war das runde Hilfspaket. Arnbjorn folgte ihm, seine Stimme klang beschwörend. »Wenn wir die Codierung mit dem Orakel überprüfen, können wir feststellen, ob das Ding für Steinar bestimmt ist, oder ob demnächst noch irgendeine andere unschuldige Gemeinde mit in eure Fehde hineingezogen werden wird.«
»Sollte die Sendung für Steinar bestimmt sein, wird man sie als vermisst markiert haben«, erwiderte Ragnar, »und wenn du die Codefolge in das Orakel eingibst, wird es winzige elektronische Signale in alle Richtungen aussenden. Nein, lass die Finger davon.«
»Aber, Papa …«
»Ich habe gesagt, lass die Finger davon!«
Es folgte ein langes Schweigen, bevor sich Arnbjorn mit gepresster heiserer Stimme wieder zu Wort meldete. »Jawohl, Gothi.«
Der Andere begann sich in dir zu rühren, und inmitten eures geistigen Ringens um die Vorherrschaft stieg ein Gedanke empor: Warum finden sich die Leute mit seiner engstirnigen Tyrannei ab?
Obwohl du darum kämpftest, die Kontrolle zu behalten, war das eine derart interessante Frage, dass du sie einfach laut aussprechen musstest, nachdem Ragnar und Arnbjorn kurz nacheinander verschwanden und Bera die Hand von deinem Mund zurückzog.
Sie zog die Nase kraus. »Stell dir vor, wie anstrengend es für ihn ist, diese Siedlung zu leiten. In manchen Jahren erleben wir einen guten Winter, wenn es uns gelungen ist, genug Nahrung einzulagern. Dann können wir so tun, als würden sich die Dinge bessern. Andere Jahre sind dann wieder so schlimm, dass wir sogar Felsfresser und Snolpelze essen und die Übelkeit und Krämpfe ertragen müssen, die wir davon bekommen. Doch jedes Jahr, jeden Monat und jeden Tag müssen wir mit unseren Vorräten haushalten. Wie viel können wir erübrigen? Wenn uns das schon belastet, wie schlimm muss es dann erst für Ragnar sein? Selbst die Stärksten unter uns würden unter dieser Belastung
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