Gestrandet - Harvey, C: Gestrandet - Winter Song
Isheimur herrschenden Sitten vertraut war, ständig damit auf, dass er viel mehr Frauenarbeit als die anderen Männer machte. Manchmal trieb sie es so weit, dass sich Ragnar beinahe schon wünschte, der Utlander würde sich bei ihr mit Ohrfeigen Respekt verschaffen. Die Duldsamkeit, mit der Allman Thorbjorgs Sticheleien ertrug, machte ihn zunehmend wütender. Besonders dann, wenn sich Bera dadurch veranlasst fühlte, sich mit Thorbjorg anzulegen, was wiederum zur Folge hatte, dass Thorbjorg Allman mit noch mehr Verachtung begegnete, weil er sich ihrer Meinung nach von einer Frau beschützen lassen musste.
Manchmal fragte sich Ragnar, womit der Fremde Thorbjorgs feindseliges Verhalten provoziert haben mochte. Hatte sie sich ihm möglicherweise angeboten und war von ihm zurückgewiesen worden? Was auch immer geschehen war, Hilda und Thorbjorg schienen einfach unfähig zu sein, Allman in Ruhe zu lassen.
Zumindest lieferten die Spannungen Ragnar die Entschuldigung, nach der er sich insgeheim gesehnt hatte, um seine administrativen Pflichten noch etwas länger ignorieren und sich zu den anderen Männern auf den Weiden gesellen zu können. Leider war er nicht mehr so jung wie sie, und so hatte er die Wahl, entweder die Kopfschmerzen zu ertragen, die ihm das ständige Gezänk zu Hause bescherte, oder aber den Muskelkater in den Beinen durch das Herumlaufen in den Hügeln.
Und dann kam der Tag, an dem Thorir beinahe mehrere Schafe in einem Sumpf verlor.
Sie trieben die letzte Herde von den Außenweiden zum Gehöft zurück. Es war ein Wettrennen gegen ein weiteres heraufziehendes Gewitter. Blitze zuckten am Horizont, und der Sturm rückte bedrohlich näher. Da die letzte gleichzeitig auch die größte und am weitesten verstreute Herde war, wurden alle Männer benötigt, um den beiden Schäfern, die die Tiere den Sommer über gehütet hatten, beim Heimtrieb zu helfen. Orn und Bjarney waren mit all ihren Männern zusammen mit Ragnar, Arnbjorn und Thorir, die auch Allman mitgenommen hatten, zu den Sommerweiden hinaufgezogen. Nur Yngi, der seine eigenen Verpflichtungen auf dem Gehöft hatte, musste zurückbleiben. Der Anblick seines Sohnes, der den anderen sehnsüchtig hinterherschaute, zerriss Ragnar beinahe das Herz. Das ist der Grund, weshalb man nie zurückblicken sollte, dachte er.
Wieder einmal war es Thorir irgendwie gelungen, sich an die Spitze des Zuges zu setzen, wo er dem Sumpf am nächsten war, und wieder einmal demonstrierte der Blödmann, warum man ihn unter keinen Umständen in die Nähe von irgendetwas gelangen lassen durfte, das kaputtgehen oder umkommen konnte.
Während bereits in der Ferne die Blitze des näher kommenden Sturms zuckten, hörten sie plötzlich das panische Blöken von zwei im Morast feststeckenden Schafen. Ohne einen Moment lang zu zögern, hechtete der Außenwelter in den Sumpf hinein und krallte seine Hand in das Nackenfell des ihm nächsten Tiers. Doch schon wenige Sekunden darauf führte das verzweifelte Strampeln des Schafs – das natürlich genau das Gegenteil dessen tat, was es in einer solchen Situation hätte tun sollen – dazu, dass Mensch und Tier von dem Morast verschluckt wurden. Nur noch eine hektisch winkende Hand Allmans ragte aus dem Sumpf heraus. Ragnar, der sich nicht damit aufhielt, seinen Zorn an dem hilflosen Thorir auszulassen, riss einen Ast von einem umgestürzten Baum und schwang ihn so über den Sumpf, dass er in Allmans Handfläche klatschte.
Die Finger des Fremden schlossen sich um den Ast.
»Helft mir, ihn rauszuziehen!«, brüllte Ragnar.
Kräftige Hände packten mit an und zogen. Einige Sekunden lang geschah nichts, und Ragnar befürchtete schon, dass sich Allmans Lungen bereits mit Schlamm gefüllt haben könnten. Ein anderer Teil von ihm registrierte, dass sich der Sturm schnell näherte, und er wusste, dass sie sich schon bald würden entscheiden müssen, ob sie hier bleiben und weiter um das Leben des Fremden kämp fen oder sich lieber vor den Blitzen in Sicherheit bringen sollten.
Doch dann gab der Morast seinen Gefangenen mit einem schrecklich schmatzenden Geräusch langsam wieder frei.
Zuerst erschien Allmans Arm, dann seine Schulter und sein Kopf, gefolgt von seinem Oberkörper und dem zweiten Arm, mit dem er noch immer das Schaf umklammert hielt.
Sie zogen den Utlander und das Tier zu sich auf festen Boden. »Kümmer dich um das Schaf!«, rief Ragnar Arnbjorn zu und drehte sich wieder zu dem Sumpf um.
Von dem zweiten Tier war keine Spur
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