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Getäuscht - Thriller

Titel: Getäuscht - Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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Emma versetzte dem Jungen hinter ihr, den sie instinktiv für den gewalttätigsten in der Gruppe hielt, einen Tritt gegen die Brust. Sie traf genau sein Brustbein. Er fiel um wie ein Sack Kartoffeln, die Augen vor Schmerz und Erstaunen weit aufgerissen.
    Mehr brauchte Emma nicht zu tun. Die anderen wichen ängstlich vor ihr zurück.
    Angewidert von sich selbst überquerte Emma die Straße und verschwand in ihrem Wohnblock.
 
    Es war ein Monument der Anonymität, ein zehnstöckiges Wohnsilo, das vor vierzig Jahren errichtet und seitdem nicht renoviert worden war. Der Eingangsbereich starrte vor Dreck und stank nach Haschisch. Emma ging zum Fahrstuhl und musste fünf Minuten warten, bis er endlich kam. Am anderen Ende des Flurs gab es eine Treppe, aber sie vermied es, zu Fuß in den fünften Stock zu steigen. Die zugedröhnten Bewohner, denen sie im Treppenhaus vielleicht begegnen würde, waren ihr egal, aber sie hasste den Uringestank. Er erinnerte sie an ihr Zuhause und ihre Vergangenheit. Und die Vergangenheit war das Einzige, vor dem Emma sich noch immer fürchtete.
    Als die Fahrstuhltüren sich endlich öffneten, stieg sie ein und fuhr in die fünfte Etage. Das Apartment 5F lag am Ende des Flurs. Nachdem sie die Wohnung betreten hatte, verschloss sie die Tür und verriegelte das doppelte Sicherheitsschloss. Sie ließ die Tasche auf den Boden fallen, ging daneben in die Hocke und holte ihre Pistole heraus. Sie prüfte, ob die Waffe geladen und gesichert war und legte sie dann auf den Flurtisch. Die Wohnung war ein Dreckloch, genau wie die in Rouen, in der sie vergangene Nacht geschlafen hatte. »Willkommen zurück auf der anderen Seite«, murmelte sie. Division würde seine Agenten niemals in Löchern wie diesem unterbringen. Es war nicht nur eine Frage des Komforts, es war vor allem eine Frage der Sicherheit. Eine Operation wegen einer Truppe herumlungernder Kleinkrimineller aus der Nachbarschaft aufs Spiel zu setzen, war mehr als leichtsinnig.
    Und ihr eigenes Verhalten? Es auf eine Schlägerei anzulegen, anstatt einfach weiterzugehen? Leichtsinnig war nicht annähernd der richtige Ausdruck dafür.
    Emma öffnete den Kühlschrank. Flackerndes Licht fiel auf einen Teller mit schimmeligem Käse und einem Viertelliter Milch, dessen ranziger Geruch ihr unangenehm in die Nase stieg. Leise fluchend schlug sie die Kühlschranktür zu. Verdammt! Das Mindeste, was sie erwarten konnte, war eine Kleinigkeit zu essen. Joghurt, vielleicht ein Glas eingelegte Gurken und eine Flasche Mineralwasser. Vielleicht sogar eine Flasche Wein. Schließlich war sie in Frankreich.
    Ihr Magen knurrte. Sie fühlte, wie ihre Muskeln sich vor Hunger spannten.
    Die Erinnerung überkam sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel ...
    Ein schlaksiges Mädchen in einem zerrissenen Wollkleid mit kurzen, verfilzten braunen Haaren. Rebellische grüne Augen in einem Gesicht, das von einem großflächigen Ekzem entstellt war. Das Mädchen stand mit ausgestreckten Händen in der Schulküche. Zu ihren Füßen lag eine zerbrochene Porzellanschüssel neben einer Hand voll Haferschleim, den sie vom Boden der Schüssel gekratzt hatte. Zur Strafe sauste ein schwarzer Gürtel wieder und wieder auf ihre ausgestreckten Handflächen, danach auf andere Teile ihres Körpers. Und obwohl ihr Inneres bei jedem Schlag aufschrie, war es ihr vor Hunger verkrampfter, knurrender Magen, der am meisten schmerzte.
    Emma lachte über ihre Gefühlsduselei. Anderen war es noch viel schlimmer ergangen als ihr. Aber wenn in den Tiefen ihres Gehirns die Erinnerung an das Mädchen mit Namen Lara aufstieg, tat sie alles, um diesen Gedanken so schnell wie möglich wegzusperren.
    Sie lief durch sämtliche Zimmer und lauschte überall an den Wänden. Das war Routine. In diesem Apartment konnte sie die Stimmen der Nachbarn auch hören, ohne ihr Ohr an die von Rissen überzogenen, kahlen Wände zu legen. Der alltägliche Lärmpegel war ein gutes Zeichen. Stille war nicht gut. Stille bedeutete Angst. Und Angst deutete meist darauf hin, dass die Polizei in der Nähe war.
    Emma ging zurück in die Küche und kramte in ihrer Tasche nach irgendetwas Essbarem. Sie fand ein Kaugummi und eine Tüte Lakritz, die sie in London auf dem Weg zu ihrem Treffen mit Jonathan gekauft hatte. Sie schüttete den Inhalt der Tüte auf die Handfläche und steckte sich das Lakritz Stück für Stück in den Mund. Großartig, dachte sie. Mein Beruf bietet mir ein wahrhaft glamouröses Leben.
    Plötzlich klopfte es an

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