Getäuscht - Thriller
vor. Sie kochte vor Wut. Sie war nicht in der Stimmung, sich anmachen zu lassen. Nicht heute Nacht, wo sie sowieso schon einen Hass auf alles und jeden hatte. Wo selbst das freundlichste Lächeln sie in Rage bringen konnte, ganz zu schweigen von einem Haufen angehender Terroristen. Im Stillen verfluchte sie ihre Kollegen von der Zentrale. Wenn man sich ausgerechnet in einer Plattenbau-Vorstadt Unterschlupf suchte, ließen sich Situationen wie diese kaum vermeiden.
Die Betonwüste im Departement Seine-Saint-Denis unmittelbar nördlich von Paris war fest in den Händen von Immigranten. Hierher verirrten sich nur die Ärmsten. Wer die Wahl hatte, blieb nicht lange. Selbst die Polizei machte einen Bogen um diese Gegend. Es war bereits nach zwei Uhr morgens, aber in den Straßen herrschte immer noch reger Betrieb. Neonschilder über einem Falafel-Imbiss wiesen darauf hin, dass der Laden vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte. Eine Gruppe Männer stand rauchend daneben. Emma zog ihre Schultertasche fest an ihren Körper und lief zielstrebig weiter. Dabei ließ sie die pöbelnde Gang nicht aus den Augen. In der Tasche waren ihre Arbeitskleidung, ihre Kamera, ihr Portemonnaie und natürlich ihre Waffe.
Die Rowdys ließen sie vorbeiziehen, machten dann aber auf dem Absatz kehrt und folgten ihr.
»He, Madame, wir reden mit Ihnen«, sagte einer von ihnen, dieses Mal auf Französisch. »Sind Sie zu Besuch, oder wohnen Sie hier? Wir haben Sie hier noch nie gesehen.«
Emma lief einfach weiter und bog um die Ecke. Sie beachtete die Anmachversuche nicht. Sie wusste, wie man sich fühlte, wenn man jung, wild und ohne elterliche Aufsicht war, mit zu viel Zeit und zu wenig Geld in der Tasche. »Darf ich mal?«, sagte sie, als sie ihren Wohnblock sah, und versuchte, an den jungen Burschen vorbei über die Straße zu gehen.
»Nee, so nicht.« Der Sprecher musste der Anführer sein, wenn es überhaupt einen gab. Ein übel aussehender Bursche von neunzehn oder zwanzig, offenbar ein Nordafrikaner. Er baute sich vor Emma auf und versperrte ihr den Weg. Seine Armmuskeln waren gewaltig. Emma sah, dass er am Hals einen Dolch eintätowiert hatte. Ein Typ mit Gefängniserfahrung. Das erklärte seine Muskeln: Er hatte viel Zeit gehabt, im Knast Gewichte zu stemmen.
»Ich sagte: Darf ich mal.« Emma ging an ihm vorbei, aber der Bursche baute sich erneut vor ihr auf. Emma starrte ihm ins Gesicht und spürte eine Anspannung in sich wachsen, die vor einer Sekunde noch nicht da gewesen war. »Was willst du?«
»Nur reden.«
»Es ist spät. Ich muss nach Hause.«
»Warum kommst du nicht mit zu mir?« Der Bursche rückte ihr unangenehm dicht auf die Pelle. »Nur du und ich. Was meinst du? Keine Angst, ich sorge dafür, dass du rechtzeitig zum Morgengebet wieder zu Hause bist.«
»Ich verzichte, vielen Dank. Und nun zieht Leine, Jungs.« Emma wusste genau, worauf das hinauslief und goss bewusst Öl ins Feuer. Sie war in der Stimmung dafür. Heute Nacht würde sie sich von niemandem etwas gefallen lassen.
Die anderen Burschen kamen nun ebenfalls bedrohlich nahe. Emma warf einen Blick über die Schulter. Die Straße war menschenleer. Hier gab es keine Falafel-Buden oder Tattoo-Studios. Nur dunkle Lagerhauseingänge. In der Ferne hörte sie, wie eine Flasche zerbrach. Das hysterische Lachen einer Frau verwandelte sich in einen Schrei. Emma hatte das Gefühl, als würde in ihrem Kopf ein Schalter umgelegt.
»Mach es uns doch nicht so schwer«, sagte der Anführer. »Warum hängst du nicht ein bisschen mit uns ab?«
»Und ich passe auf deine Tasche auf, während ihr euren Spaß habt«, sagte ein anderer. »Danach bringen wir sie zu dir aufs Zimmer.«
Eine Hand griff nach ihrer Tasche. Emma zog sie fester an sich. »Die Tasche bleibt bei mir!«
»Das entscheide ich«, sagte der Anführer. Er stand so nah vor ihr, dass sie die Farbe seiner Augen sehen konnte: halb grün, halb braun. Genau in diesem Moment machte der Junge den entscheidenden Fehler: Er packte sie am Arm. Nicht brutal, aber sehr fest, und seine Absicht war unmissverständlich.
Die provokante Geste war mehr als genug für Emma.
Sie schmetterte dem Jungen die Faust genau auf die obere Nasenhälfte. Der Schlag war so schnell und gezielt, dass er ihn gar nicht kommen sah. Emma traf ihn mit voller Wucht und spürte, wie sein Nasenknorpel nachgab und die Nasenscheidewand brach. Er stolperte ein paar Schritte zurück und sank auf die Knie. Aus seiner gebrochenen Nase schoss das Blut.
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