Getäuscht - Thriller
geträumt, Pilot beim Militär zu werden. Als Kind war er an jedem 9. Mai bei der jährlichen Parade zum Tag des Sieges auf dem Roten Platz dabei gewesen und hatte die MiGs, die Sukhois und die
Tupolew-Fliegerschwadronen am Himmel bestaunt. Er hatte sich vorgestellt, wie er selbst in luftige Höhen aufstieg, um dann mit halsbrecherischer Geschwindigkeit zur Erde zurückzurasen. Doch diese Träume hatten ein jähes Ende gefunden, als ein Augenoptiker ihm im Alter von zehn Jahren eine unglaublich hässliche Hornbrille auf die Nase setzte. Aber wenn er schon kein Kampfpilot werden konnte, wollte er wenigstens den nächstbesten Beruf ergreifen und Spion werden.
Borzoi steuerte sein Flugzeug bis zur Rollbahn und ging auf Startposition. Auf dem Flugplan stand ein schneller 300-Kilometer-Flug vom Flughafen Scheremetjewo in Moskau bis Norilsk, wo seine größte Schmelzanlage stand. Der Flug sollte eine Stunde und dreiunddreißig Minuten dauern. Das Wetter war gut. Die Sichtweite betrug zehn Kilometer. Es war ein perfekter Flugtag.
Borzoi gab Vollgas, löste die Bremse und jagte die Rollbahn hinunter. Als die Maschine eine Geschwindigkeit von gut 220 Stundenkilometer erreicht hatte, zog er sie hoch. Die Cirrus stieg vorbildlich in die Höhe und schraubte sich im Aufwind empor.
Als sie auf tausend Metern war, explodierte eine speziell auf diese Höhe programmierte Bombe mit fünfzig Gramm hochwertigem Plastiksprengstoff direkt neben dem Tank. Der Tank war mit dreihundertsieben Litern hyper-dynamischem Flugbenzin gefüllt. Die Explosion war gigantisch. Das Flugzeug, das zuvor noch elegant mit zweihundert Meter pro Minute aufgestiegen war, verwandelte sich binnen eines Sekundenbruchteils in einen grellen Feuerball.
Das lodernde Wrack überschlug sich mehrmals und fiel wie ein Stein vom Himmel.
Es gab keine Überlebenden.
Die Explosion wurde zunächst als Unfall, später als Fehler des Piloten deklariert, obwohl es keine Beweise für diese Annahme gab.
Sergei Shvets erhielt die Nachricht vom Tod Borzois nur fünf Minuten später. Der FSB war stolz auf sein Netzwerk von Informanten, und Shvets gab gerne damit an, dass er der bestinformierte Mann im ganzen Land sei. Als ihm die Nachricht zu Ohren kam, machte er ein betroffenes Gesicht und tat bestürzt. Borzoi war ein langjähriger Freund und geschätzter Kollege beim Geheimdienst gewesen.
Insgeheim aber war Shvets hocherfreut.
Zwei Konkurrenten waren ausgeschaltet. Blieb nur noch einer.
Nur noch Igor Iwanow stand zwischen ihm und dem heißbegehrten Amt des Präsidenten.
57.
Jonathan legte den Arm über das Dollbord und hievte sich ins Ruderboot. Er war zwei Stunden ohne Pause geschwommen. Sein Nacken schmerzte, und seine Arme waren völlig gefühllos. Am schlimmsten aber war die Übelkeit. Zweimal hatte er versucht, an der Oberfläche weiterzuschwimmen, und war jedes Mal auf ein vorbeifahrendes Polizeiboot gestoßen. Beide Male hatte er beim hastigen Untertauchen Wasser geschluckt. Er wischte sich mit der Hand übers Gesicht und entdeckte Rückstände von Öl und Abwasser auf seinen Fingern. Im Ruderboot legte er sich lang auf die warmen Holzplanken und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Er musste sich ausruhen, aber Ruhe war ein Luxus geworden, den er sich nicht mehr leisten konnte.
Stöhnend richtete er sich auf und blickte zum Ufer. Hier und da sah er ein Pärchen in der Sonne liegen. Ein Mann ging mit seinem Hund Gassi. Ein Stück weiter bauten drei Kinder emsig an einer Sandburg. Jonathan schätzte, dass er ungefähr sechs oder sieben Kilometer zurückgelegt hatte, den größten Teil davon unter Wasser. Statt sich treiben zu lassen, war er in Richtung Norden gegen die Strömung angeschwommen und hatte dabei schwer mit der einlaufenden Flut zu kämpfen gehabt. Nachdem er den Hafen hinter sich gelassen hatte, war er am Industriegebiet vorbeigeschwommen, bis er einen Strand erreicht hatte, an dem das Schilfgras hüfthoch wuchs und kleine Ferienhäuser zwischen windzerzausten Pinienbäumen hervorlugten. Ungefähr fünfzig Meter vom Strand entfernt lagen in unregelmäßigen Abständen Motorboote vertäut, aber sie alle waren mit Segeltuchplanen abgedeckt. Jonathan war ein riesiger Stein vom Herzen gefallen, als er das auf den Wellen schaukelnde Ruderboot entdeckt hatte.
Eine Welle von Übelkeit krampfte seinen Magen zusammen, und er erbrach sich ins Meer. Danach fühlte er sich ein wenig besser und machte sich daran, den Außenbordmotor zu untersuchen. Es
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