Getäuscht - Thriller
sie durchleuchten zu lassen. Als die Tasche auf der anderen Seite des Röntgengerätes wieder zum Vorschein kam, wurde sie zusätzlich von einem Wachmann durchsucht. Der Mann zog nacheinander das iPod, das Handy, das Make-up, die Zange, die Schraubenzieher und die Klemmen heraus und untersuchte alles gründlich.
»Sind Sie Ingenieurin?«, fragte er und hielt die Zange hoch.
»Sicherheitsinspektorin«, antwortete Emma.
Der Wachmann legte die Zange zurück in die Handtasche, reichte sie Emma und wünschte ihr einen schönen Tag.
Ein Mann mittleren Alters mit einem Bürstenschnitt, der in den fünfziger Jahren modern gewesen war, erwartete sie auf der anderen Seite der Schranke und musterte sie prüfend durch eine randlose Brille.
»Guten Morgen, Miss Scholl. Mein Name ist Alain Royale. Ich bin Monsieur Grégoires Assistent. Bedauerlicherweise ist er noch nicht zur Arbeit erschienen, aber ich bin sicher, er wird jede Minute eintreffen. Er ist bis jetzt noch nie zu spät gekommen. Sie können in seinem Büro Platz nehmen, während ich mich um Ihren Werksausweis und die Schlüsselkarte kümmere.«
Emma folgte dem Mann eine Treppe hinauf zu Grégoires Büro, das mit einem großen Schreibtisch, Besucherstühlen und einer Couch ausgestattet war. Emmas Blick fiel auf die Monitore hinter dem Schreibtisch, auf denen zeitgleich die Bilder von zwei Dutzend Überwachungskameras zu sehen waren, die an unterschiedlichen Stellen im Kraftwerk installiert waren. Emma erkannte den Haupteingang, den Kontrollraum, den Reaktorbehälter, die äußeren Ladedocks und - für ihre Zwecke besonders interessant - das Becken für die abgebrannten Brennelemente.
»Ich würde gerne sofort anfangen«, sagte sie. »Sie können sich bestimmt den Grund dafür denken.«
Royale nickte. »Wir sind um drei Uhr heute früh alarmiert worden. Wissen Sie schon Genaueres?«
»Nein. Wir werden Sie sofort informieren, wenn wir mehr erfahren«, erwiderte Emma. »Unser Sicherheitsteam arbeitet mit Hochdruck an der Sache. Aber es ist wichtig, dass die verschiedenen Kernkraftwerke die erforderlichen Maßnahmen treffen. Ich muss noch ein paar Papiere ausfüllen, bevor ich mich im Kraftwerk umschaue. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Monsieur Grégoires Büro benutze?«
»Überhaupt nicht.«
Emma stellte ihre Handtasche auf Grégoires Schreibtisch. »Zuerst brauche ich eine Auflistung sämtlicher Lieferungen von Brennstäben während des letzten Abschaltzyklus sowie eine Aufstellung sämtlicher Transporte ausgelagerter Brennelemente. Außerdem benötige ich eine Liste der Endlager, an die die ausgelagerten Brennelemente geliefert worden sind, und die unterschriebenen Papiere, mit denen der Empfang bestätigt wurde.«
Royale nickte, betrachtete sie aber immer noch misstrauisch. »Möchten Sie einen Kaffee?«
»Nein, danke.«
Wieder musterte sie sein prüfender Blick. »Es dauert nur zehn Minuten.«
Emma nickte, und Royale verließ das Büro. Sie setzte sich auf den Besuchersessel am Schreibtisch und holte ihr Handy aus der Handtasche. Dann zählte sie langsam bis dreißig. Bei der letzten Zahl öffnete sich die Tür, und Royale steckte den Kopf hinein. »Brauchen Sie auch die Zollpapiere, falls die ausgelagerten Brennstäbe ins Ausland verschifft worden sind?«
»Das ist nicht nötig. Nur die Empfangsbestätigung mit der genauen Uhrzeit und dem Datum. Danke, Monsieur Royale.«
Emma richtete ihre Aufmerksamkeit auf das Mobiltelefon, das sie in der Hand hielt. Kaum hatte die Tür des Büros sich geschlossen, hob sie das Handy ans Ohr und lauschte den Schritten Royales, die sich über den Flur entfernten. Dann öffnete sie ihre Handtasche, holte die Zange, die Schraubenzieher und die Klemmen heraus und schlüpfte auf den Flur. Auf der nächsten Tür rechts stand: »Sécurité Visuelle.« Emma zog eine Haarnadel aus ihrem Pferdeschwanz und öffnete damit das Türschloss.
Der Raum war vollgestellt mit audiovisuellen Geräten. Um sie vor Überhitzung zu schützen, sorgte eine Klimaanlage für eine gleichmäßig kühle Temperatur im Raum. An zwei Wänden hingen zahlreiche Monitore, auf denen die Bilder von hundertfünfzig Überwachungskameras, die an verschiedenen Stellen im Kraftwerk platziert waren, in Echtzeit übertragen wurden. Bei genauerem Hinsehen bemerkte Emma, dass auf jeweils einem Monitor auf beiden Wänden das gleiche Bild zu sehen war. Oder zumindest fast das gleiche Bild. An jeder der hundertfünfzig Stellen waren zwei Überwachungskameras
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