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Gewäsch und Gewimmel - Roman

Gewäsch und Gewimmel - Roman

Titel: Gewäsch und Gewimmel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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werden mußte, weil er vom früheren Sultan Abdul Hamid eine monatliche Gehaltsaufbesserung von 2000 Pfund angenommen hatte. Es war das Jahr, in dem der Wiener Operettentenor Fritz Werner für ein Jahresgehalt von 70   000 Mark nach Mannheim verpflichtet wurde.
    Das waren die Fakten, das alles vergaß man, Großmutter Annas wegen, in unserer Familie niemals.
    Bei der Internationalen Gartenbauausstellung in Berlin konnte die junge Anna den deutschen Kronprinzen und die Kronprinzessin Cecilie aus nächster Nähe lächeln sehen. Bis dahin kannte sie von den beiden nur Fotos, auf denen ihnen erschossene Gemsen zu Füßen lagen. Großmutter Anna war erst achtzehn und heiratete noch im selben Jahr, kurz nachdem der herrliche spanische Geigenkünstler Sarasate gestorben war.
    Die Damen trugen halbe Vögel auf dem Kopf. Das Schönste an ihr muß das berühmte Kleid aus Paris gewesen sein. Alle Frauen in unserer Familie gaben das Gerücht weiter. Ein Kleid vom Hörensagen. Das bodenlange Obergewand im Empirestil war aus weißem Satin, das Unterkleid aus altgoldfarbenem Chiffon gearbeitet. Goldstickerei am Rockrand und an der Schleppe, Spitzenstoffbordüren an den tiefen Ausschnitten vorn und hinten, kleine Chiffonärmel. Das Überkleid bestand aus zwei Teilen, die vorn auseinandertraten und hinten schärpenähnlich geknotet wurden.
    Ach, dieser Aufputz Anfang des letzten Jahrhunderts! Knopfgarnituren, Einsätze aus Gold-, Silber- und Stahlfaden, Atlas, Taft und Seidenvoile. Drapierungen, Transparenz und Verschleiern durch speziell arrangierte Falten. Die täglich gewechselten Korsette kamen nachts in eine parfümierte Hülle aus doppelt liegender Seide, fest zusammengerollt, damit sich das Fischbein wieder streckte. Hundert Jahre ist es her, daß die Großmutter Anna, die stolze Altistin, ihre Metallfadengespinste trug, die den Körper glänzend und glatt wie Fischhaut umschlossen.
    Wenn man bedenkt, wie furchtsam die Eleganz von Jeanette Herzer dagegen wirkt! Sie will doch bloß von ihrem Körper ablenken. Und wie anders als diese Großmutter stehe auch ich in meinen Wanderschuhen da, von meiner traurigen Sabine ganz zu schweigen.
    Die Linie führt abwärts, mit unserem schönen Mirko hätte sie neu aufsteigen können. Meine Mutter war nicht mehr so prächtig wie meine Großmutter, aber sie klapperte, obschon sie hungerte, wegen des Geräusches auf hohen Absätzen in ihrem einzigen Kostüm an den Trümmerhäusern entlang. Jemand hatte es ihr aus dem Anzug des gefallenen Vetters geschneidert. Ist denn zu glauben, daß diese Mutter auch die spätere war, daß man sie nicht ausgetauscht hat, als ich dreizehn wurde?
    Ich selbst gehe so gern auf dem Waldboden, besonders, wenn es wieder mit den Gerüchen anfängt, wenn mir allenfalls der kiebitznärrische Holterhoff begegnet und ich an Herrn Hans denken kann, dessen altes Reich ich durchwandere, bis ich umfalle.
    Ich habe Mirko ab und zu ein bißchen von Anna Hornberg vorgeschwätzt. Was sie, die Opernsängerin, wohl zu ihrem Ur-Urenkel, der unbedingt Ornithologe werden wollte, gesagt hätte und zu seinem gottverlassenen Tod? Die Ur-Urenkelkinder von Mirko aber, falls er nicht so früh gestorben wäre, würden, sagt Herr Hans, in Deutschland Kuckuck und Kormoran nicht mehr zu Gesicht kriegen, dafür den Bienenfresser und den Orpheusspötter.
    Auch heute nacht habe ich wieder sehr ängstlich gedacht: Wenn sie doch alle bloß weiterleben und bestehen, damit das Menschengespinst um mich herum, obschon alles so anders geworden ist innerhalb des einen Jahres, in der zugigen Welt aufrechterhalten bleibt! Vielleicht wären sie in der Fröhlichkeit vom Anfang, hier, im Tristanweg 8, sogar ein Bollwerk gegen den Oberbürgermeister gewesen? Ach, daß sie alle so matt geworden sind, so … ältlich! Aus der Abfolge der Jahre kommt natürlichauch der Oberbürgermeister nicht heraus. Da kann er noch so wüten und asphaltieren, der Halbschlaue. Nach dem Dezember muß er rein in den Januar und nach dem Herbst in den Winter. Kann niemals da raus, bis zum Lebensende nicht, und wenn er noch so rollt mit den milchig blauen Augen. Kann seine Bürger lächelnd bestechen und täuschen, kann grinsend fällen und pflastern, die Jahre betrügt er nicht! Aber wenn er uns zwischen die Zähne nimmt, dann sind die knirschenden, dröhnenden Baugeräusche, das Grauen der Betonmischmaschinen von allen Seiten um uns herum.
    Das Mädchen Anada kommt mir wieder in den Sinn, wie ihr unter der Haut das Blut bis zur

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