Gewäsch und Gewimmel - Roman
verschaffen, schikaniert, herzlos gequält und verwundet haben. Es scheint, als hätten sie in ihr gar kein Lebewesen, erst recht kein menschliches gesehen, sondern eine Art Stoffteddy, an dem man ausprobiert, was einem einfällt.
Das macht es wirklich gefährlich. Vor allem, wenn man bedenkt, daß der Anführer der beiden die alte Frau mehrere Monate lang spazierengefahren und für sie eingekauft hat. Beruhigend wäre als Motiv die langanhaltende Wut über eine verweigerte Geldherausgabe gewesen. Es hilft aber nichts: Sie muß in das Abreagieren eines Spieltriebs übergegangen sein.
Rätsel
Werden diese beiden Jungen, die dem Jugendamt einschlägig bekannt waren – die Frage stellte sich der am Ort des Geschehens lebende Zwillingssohn von Frau Fendel – noch zu retten sein für ein Leben in freier Sozietät?
Berufe für sie gäbe es schon, nämlich Firmen, Privatunternehmen, die sich für die Empathiedefizite der beiden, als besonderer Begabung und Eignung zu geheimen Verhören etwa, interessieren könnten.
Hier muß freilich das Leben selbst die Lösung verraten.
Das Passende
Der Schriftsteller Pratz fuhr aus Süddeutschland an die Nordseeküste durch eine Landschaft mit Tieren und kahlen Bäumen, eine Gegend, so samtig braun wie sein Traum in der letzten Nacht. Die Pferderücken fügten sich vollkommen der struppigen Landschaft, schöne, diskrete Einlegearbeiten, Ton in Ton, aus weichem, grau-braun getrübtem Stein geschnitten, auch wie die »Augen« im Arvenholz.
Im Abteil schlief ein Junge, ungefähr acht Jahre alt, sehr rot der Mund, schneeweiß die Haut.
Ein Meßdiener? fragte sich Pratz.
Als sein Vater ihn wecken wollte, gelang ihm das nicht. Selbst die Schuhe ließ sich der Kleine anziehen, ohne aufzuwachen. Der Vater stellte ihn mit einiger Mühe vor sich hin, hielt ihn mit beiden Armen fest und redete ihn mit seinem Namen an. Dieser Name lautete »Sebastian«. Der Junge öffnete die Augen nicht. Seine Lider waren auffällig groß, von vornherein zum Schlafen geschaffene Augendeckel. Er sank auf den Schoß des Vaters und schlief. Er fiel, nachdem ihm der Vater den Anorak übergestreift hatte, auf einen freien Sitz und schlief mit seitlich geneigtem Kopf in widersetzlicher Unschuld. Dem erschlafften Kind mußten Knochen und Muskeln im Träumen abhanden gekommensein. Übrig war ein taumelndes Tier, eine schwankende Pflanze. Fast graute den Schriftsteller da vor dem so schamlos im Fleische erschienenen kleinen Tod.
Wie wär’s mit einer Ohrfeige? fragte sich Pratz.
Am Meer herrschte dann das, was er unbedenklich »das Wesenlose« nannte, eine trostlose Weite der Welt. Plötzlich hörte er einen Menschen, der vor sich hinsagte: »Heute endet das Kirchenjahr.« Ach herrje, dachte Pratz, Teufel auch, das Kirchenjahr! Gilt so etwas denn in dieser kahlen Landschaft? Aber, wer sagt’s denn, eventuell wird das ja gerade hier gebraucht, so unsichtbar das Datumsgitter auch über der Fläche liegt, Fastenzeit, Ostern, Pfingsten, das alles, die Feste Maria dies, Maria das.
Etwas später befand er sich unter fahlem Vollmond, einem verwischten, nur kurze Zeit rundum erkennbaren, dann halb verdeckten. Die Bäume? Schon ohne Laub. Der Gespenstermond spendete ein Totenlicht mit direkter, dringender Ansprache an den wandernden Pratz. Der aber suchte nach einer passenden Gedichtzeile. Er spürte die Wörter ungefähr. Nur nicht genau. Diese Zeile wäre die einzige Möglichkeit, den Mond zufriedenzustellen. Sie lag Pratz auf der Zunge, aber fiel ihm nicht ein. Schließlich schloß er, damit Frieden herrschte, basta, von innen die Pensionstür ab.
Draußen stand der Mond, hungrig Ausschau haltend, ob ihm ein Satz, ein Wort, ein Brosamen zugeworfen würde. »Nein!« sagte von innen Pratz. »Warten wir’s ab!« antwortete der Totenmond.
Taubendank
Herr Brück, der seinem alten Hund Rex Brück treu zur Seite steht, sah gestern, wie einige andere Passanten auch, daß eine Taube irrtümlich durch die weit geöffnete Tür einer Bäckerei flog und in den vorweihnachtlichen Kunstschnee des Schaufensters geriet, wobei das Tier im Bemühen, den Weg durch die Scheibe hindurch nach draußen zu finden, in Panik dagegen prallte und ein wildes Gestöber erzeugte, das sich auf Brote und Kuchenstückesenkte. Die Angestellte in der Tiefe des Ladens war mit anderem beschäftigt und bemerkte weder das entstehende Chaos noch die Kopflosigkeit des verzweifelten Vogels. Da trat Herr Brück kurzentschlossen in die Bäckerei, preßte
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