Gewagt - Gewonnen
Besonderes vor?“
„Nicht das geringste.“
„Dann hören Sie! Jean hat sich eine Vorderpfote verletzt, und er will von einer Behandlung absolut nichts wissen. Der Gärtner hat es versucht, und ich habe es versucht, aber er hat uns nur böse angeknurrt. Wenn ich Sie mit meinem Wagen abhole, würden Sie dann wohl so freundlich sein und mit herauskommen, um die Wunde zu reinigen und einen Verband anzulegen?“
„Ja, gern. Aber…“
„Ich weiß, was Sie sagen wollen. Herr Mostvedt ist mit Gerda nach Oslo gefahren, um Aussteuer einzukaufen. Und ich glaube nicht, daß dazu ein Tierarzt nötig ist. Es handelt sich nur darum, die Wunde zu reinigen, damit keine Entzündung entsteht. Sie sind ja übrigens auch selbst ein halber Tierarzt.“
„Jetzt übertreiben Sie“, wehrte Astrid lachend ab. „Aber ich werde gern kommen. Riesig gern.“
Eine Stunde später fuhr das Auto vor dem Hause vor, und Harder klingelte. Frau Liberg fragte, ob er sich nicht vor der Rückfahrt etwas stärken wolle, aber er lehnte dankend ab. „Astrid soll sich also wieder einmal als Hundedoktor betätigen?“ meinte Frau Liberg lächelnd. „Ja - Astrid und Hunde!“ Und sie erzählte ein paar kleine Episoden aus Astrids Kindheit, die zeigten, daß sie mit den Tieren von klein auf gut Freund gewesen war.
„Das zu beobachten, hatte ich selbst Gelegenheit“, sagte Harder. „Sie hätten Jean sehen sollen, als er Fräulein Astrid zum erstenmal zu sehen bekam! – Es ist ja eigentlich etwas beschämend, daß ich ein junges Mädchen um Hilfe bitten muß, aber…“
„Nicht das junge Mädchen, sondern den Tiermenschen Astrid, Herr Harder. Und das ist ein großer Unterschied. - Weißt du, Astrid“, wandte sie sich dann an ihre Tochter, „für dein Mittagessen wirst du selbst sorgen müssen. Ich fürchte, ich werde bis spät in den Nachmittag hinein über meinen Abrechnungen sitzen müssen.“
Frau Liberg war genötigt, den Sonntag mit heranzuziehen, denn sie hatte im Geschäft den Rechnungsabschluß für das vergangene Vierteljahr fertigzustellen, und dazu reichte die Zeit an den Werktagen, an denen es soviel zu tun gab, nicht aus. „Ich glaube, bei uns werden wir wohl noch einen Bissen für Fräulein Astrid finden – vorausgesetzt, daß Sie sie mir solange anvertrauen wollen.“
„Das brauche ich wohl nicht erst besonders zu versichern“, erwiderte Frau Liberg mit ihrem gewinnendsten Lächeln.
So kletterten sie denn alle drei in den Wagen. Harder setzte Frau Liberg vor ihrem Geschäft ab und fuhr dann mit Astrid weiter.
Wie bequem saß es sich doch in diesem großen, wundervollen Wagen! Per Mostvedts kleines Wägelchen war ja auch ganz nett. Aber das hier war doch eine andere Sache! Astrid mußte an jenen Tag in Oslo denken, da sie zum ersten Mal in diesem Luxuswagen gesessen hatte. Und sie dachte auch an den Tag, da sie zum letzten Male mit Per Mostvedt in seinem bescheidenen Auto gefahren war. Mit welchen hochgespannten Erwartungen, war sie zu der großen Gesellschaft auf Harders Gut gefahren! Und wie klein und mutlos und enttäuscht war sie nach der Gesellschaft heimgekehrt?
Jetzt hegte sie weder Erwartungen, noch hatte sie Enttäuschungen zu befürchten. Sie war ruhig und frohgelaunt, und sie fühlte sich in der Gesellschaft ihres älteren Freundes wohl und geborgen.
Trotz der verletzten Pfote empfing Jean sie mit allen Zeichen der Wiedersehensfreude, und Astrid ließ sich Zeit mit ihm. Sie hockte auf dem Fußboden nieder, sie plauderte mit Jean, streichelte ihm Hals und Kopf, rührte aber zunächst die Pfote nicht an. Erst als Jean sich auf dem Kaminteppich ausgestreckt hatte und ihr nicht länger die Hände leckte, näherte sie sich vorsichtig der kranken Pfote.
Es ging, wie es immer zu gehen pflegte, wenn Astrid sich eines kranken Tieres annahm. Ihre ruhige Stimme, ihre behutsamen Bewegungen, die Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldete, und ihr völliger Mangel an Furcht taten ihre Wirkung. Der Hund verstand, was sie wollte, und gehorchte. Harder schaute mit ehrlicher Bewunderung zu, wie Astrid in aller Ruhe die Wunde reinigte. Jean zuckte zusammen, blieb aber still liegen. Harder reichte ihr, was sie verlangte: Mull, die Pinzette, die antiseptische Lösung, das Verbandszeug. Er blickte auf die ruhigen, flinken Hände, auf den schmalen gebeugten Nacken, das konzentrierte Gesicht. Wenn Jean einen Ansatz zum Knurren machte, unterbrach sie ihre Arbeit nicht einen Augenblick. Sie sagte nur: „Ruhig, Jean!“, ohne
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