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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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Schifffahrtsrouten es Kaufleuten und Eroberern ermöglichten, Erfindungen zurückzulassen, die ihren Ursprung an anderen Stellen der riesigen eurasischen Landmasse hatten: Getreide und Alphabet aus dem Mittleren Osten, Schießpulver und Papier aus China, domestizierte Pferde aus der Ukraine, Hochsee-Schifffahrt aus Portugal und vieles andere. Gesellschaften, die auf Inseln oder in unzugänglichen Gebirgsregionen auf sich gestellt sind, neigen zu technischer Rückständigkeit. Und sie sind auch ethisch rückständig. Wie wir bereits erfahren haben, konnte die Kultur der Ehre, deren wichtigste ethische Grundsätze die Loyalität zum Stamm und die Blutrache sind, in Gebirgsregionen noch lange überleben, nachdem das benachbarte Flachland längst einen Zivilisationsprozess durchgemacht hatte.
    Was für den technischen Fortschritt gilt, dürfte auch für den ethischen Fortschritt gelten. Einzelpersonen oder Kulturen, die sich in einem großen Einzugsgebiet der
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befinden, können ein moralisches Know-how anhäufen, das nachhaltiger und besser erweiterbar ist als alles, was noch der rechtschaffenste Prophet sich in seiner Einsamkeit ausdenken könnte. Diese Aussage möchte ich mit einer kurzgefassten Geschichte der Revolutionen der Rechte verdeutlichen.
    In seinem 1963 erschienenen Aufsatz »Pilgrimage to Nonviolence« (»Pilgerfahrt zur Gewaltlosigkeit«) legte Martin Luther King dar, welche intellektuellen Fäden er in seine politische Philosophie eingewoben hatte. [1343] Er war Ende der 1940 er und Anfang der 1950 er Jahre Doktorand der Theologie gewesen, deshalb waren ihm die Bibel und die orthodoxe Theologie natürlich vertraut. Er hatte aber auch abtrünnige Theologen wie Walter Rauschenbusch gelesen, der die historische Genauigkeit der Bibel und die Lehre, Jesus sei für die Sünden der Menschen gestorben, in Frage gestellt hatte.
    Nun machte sich King an ein »ernsthaftes Studium der sozialen und ethischen Theorien großer Philosophen, von Platon und Aristoteles bis zu Rousseau, Hobbes, Bentham, Mill und Locke. Alle diese Meister regten meine Gedanken – so, wie sie waren – an, und auch wenn ich bei jedem etwas fand, das ich in Frage stellen konnte, lernte ich aus der Beschäftigung mit ihnen doch eine Menge.« Er las sehr sorgfältig Nietzsche und Marx (und lehnte sie ab), womit er sich gegen die autokratischen und kommunistischen Ideologien immunisierte, die anderen Befreiungsbewegungen so verführerisch erschienen. Ebenso wandte er sich gegen die »Vernunftfeindlichkeit des kontinentalen Theologen Karl Barth«, er bewunderte aber Reinhold Niebuhrs »außerordentliche Erkenntnisse über das Wesen des Menschen, insbesondere über das Verhalten von Nationen und gesellschaftlichen Gruppen … Diese Elemente in Niebuhrs Gedanken halfen mir, die Illusionen eines oberflächlichen Optimismus im Hinblick auf die menschliche Natur und die Gefahren eines falschen Idealismus zu erkennen.«
    Eine unwiderrufliche Veränderung erlebten Kings Gedanken eines Tages, als er nach Philadelphia reiste, um einen Vortrag von Mordecai Johnson zu hören, dem Präsidenten der Howard University. Johnson war kurz zuvor von einer Reise nach Indien zurückgekehrt und sprach über Mahatma Gandhi, dessen Einfluss kürzlich mit der staatlichen Unabhängigkeit des Landes seinen Höhepunkt erreicht hatte. King schrieb darüber: »Seine Botschaft war so tiefgreifend und fesselnd, dass ich die Tagung verließ und mir ein halbes Dutzend Bücher über Gandhis Leben und Werk kaufte.«
    King war sofort klar, dass Gandhis Theorie des gewaltlosen Widerstandes im Gegensatz zu der Gewaltlosigkeit in den Lehren Jesu keine moralistische Bestätigung der Liebe war. Sie war vielmehr ein System dickköpfiger Strategien, mit denen man einen Feind überlisten konnte, statt sich um seine Vernichtung zu bemühen. Ein Gewalttabu, so schloss King, konnte verhindern, dass eine Bewegung von Gaunern und Hitzköpfen unterwandert wurde, die sich nur von Abenteuer und Chaos anlocken lassen. Es bewahrt bei den Anhängern Moral und Konzentration, wenn die Bewegung ihre ersten Niederlagen erlebt. Wenn man dem Feind jeden Vorwand für eine legitime Vergeltung nimmt, bleibt man in den Augen Dritter auf der positiven Seite der moralischen Abwägung, und gleichzeitig wird der Feind auf die negative Seite gelockt. Aus dem gleichen Grund führt es beim Feind zur Spaltung: Es schreckt Anhänger ab, die zunehmend ein ungutes Gefühl dabei haben, sich mit einseitiger

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