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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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Gewalt zu identifizieren. Und während dieser ganzen Zeit kann man seine eigenen Anliegen vertreten, indem man mit Sit-Ins, Streiks und Demonstrationen zum Plagegeist wird. Eine solche Taktik führt natürlich nicht bei allen Feinden zum Erfolg, bei einigen aber sehr wohl.
    Mit seiner historischen Rede während des Marsches auf Washington im Jahr 1963 verband King auf geniale Weise die intellektuellen Hilfsmittel, die er sich während seiner Wanderjahre angeeignet hatte: Bilderwelt und Sprache der hebräischen Propheten, die Aufwertung des Leidens aus dem Christentum, das Ideal der individuellen Rechte aus der europäischen Aufklärung, Höhepunkte und rhetorische Figuren aus der Kirche der Afroamerikaner und den strategischen Plan eines Inders, der mit der jainistischen, hinduistischen und britischen Kultur vertraut war.
    Es ist keine Faulheit, wenn man sagt: Der Rest ist Geschichte. Das von King zusammengestellte moralische Instrumentarium floss wieder in das Reservoir der Ideen ein und wurde dort von den Vorreitern anderer Bewegungen für ihre Zwecke angepasst. Sie machten sich bewusst seinen Namen, seine moralische Begründung und vor allem viele seiner Strategien zu eigen.
    Die Revolutionen der Rechte vom Ende des 20 . Jahrhunderts haben das erstaunliche Merkmal, dass nach den Maßstäben der Geschichte sehr wenig Gewalt angewandt oder auch provoziert wurde. King selbst war ein Märtyrer der Bürgerrechtsbewegung, und das Gleiche gilt für die wenigen Opfer des rassistischen Terrorismus. Aber die Unruhen in den Städten, die wir mit den 1960 er Jahren in Verbindung bringen, waren kein Teil der Bürgerrechtsbewegung: Sie brachen erst aus, nachdem die meisten Meilensteine bereits gesetzt waren. Die anderen Revolutionen liefen nahezu völlig ohne Gewalt ab: Es gab die Unruhen rund um den Stonewall Inn, die aber keine Todesopfer forderten, und ein wenig Terrorismus von den Rändern der Tierschutzbewegung, aber das ist auch schon alles. Die Vorreiter schrieben Bücher, hielten Reden, veranstalteten Demonstrationen, leisteten Lobbyarbeit beim Gesetzgeber und sammelten Unterschriften für Volksentscheide. Sie mussten nur den Anstoß in einer Bevölkerung geben, die einer Ethik auf der Grundlage der individuellen Rechte bereits aufgeschlossen gegenüberstand und Gewalt in jeglicher Form zunehmend ablehnte. Man vergleiche diese Geschichte einmal mit den früheren Bestrebungen, die der Gewaltherrschaft, der Sklaverei und den Kolonialreichen ein Ende machten: Damals gelang es erst nach einem Blutbad, das Hunderttausende oder Millionen von Menschen das Leben kostete.

Von der Geschichte zur Psychologie
    Damit sind wir am Ende von sechs Kapiteln, in denen der historische Rückgang der Gewalt belegt wurde. In einem Diagramm nach dem andern haben wir gesehen, wie das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends ganz am unteren Ende einer Böschung steht, die den Gebrauch der Gewalt zu verschiedenen Zeiten darstellt. Bei aller Gewalt, die es in der Welt auch heute noch gibt, leben wir doch in einer außergewöhnlichen Epoche. Vielleicht ist sie eine Momentaufnahme auf einem Weg zu einem noch größeren Frieden. Vielleicht flacht sie sich zu einem neuen Normalzustand ab, nachdem die einfachen Rückgänge bereits alle stattgefunden haben und weitere immer schwieriger werden. Vielleicht ist es auch ein glückliches Zusammentreffen, das sich schon bald in Luft auflösen wird. Aber ganz gleich, wie man die Trends in die Zukunft fortschreibt, die Entwicklung bis zu unserer Gegenwart war bemerkenswert.
    Eines der berühmtesten Zitate von Martin Luther King übernahm er aus einem 1852 erschienenen Aufsatz des Unitariergeistlichen und Sklavereigegners Theodore Parker:
    Ich behaupte nicht, das moralische Universum zu verstehen; es ist ein langer Bogen, und mein Blick reicht nur eine kleine Strecke weit; ich kann mit der Erfahrung des Anblicks die Kurve nicht berechnen und die Form nicht vollenden; ich kann sie mit meinem Gewissen erraten. Und aufgrund dessen, was ich sehe, bin ich sicher, dass sie sich in Richtung der Gerechtigkeit neigt. [1344]
    Eineinhalb Jahrhunderte später können unsere Augen sehen, dass der Bogen sich in Richtung der Gerechtigkeit neigt, und zwar auf eine Weise, die Parker sich nicht hätte träumen lassen. Auch ich behaupte nicht, ich würde das moralische Universum verstehen, und ich kann es auch mit meinem Gewissen nicht erraten. Aber in den nächsten beiden Kapiteln wollen wir uns ansehen, wie viel davon wir mit

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