Gewalt
Hilfe der Wissenschaft verstehen können.
Kapitel 8 Innere Dämonen
Doch der Mensch, der stolze Mensch,
In kleine, kurze Majestät gekleidet,
Vergessend, was am mindsten zu bezweifeln,
Sein gläsern Element … wie zorn’ge Affen,
Spielt solchen Wahnsinn gaukelnd vor dem Himmel,
Dass Engel weinen.
William Shakespeare,
Maß für Maß
Zwei Aspekte am Rückgang der Gewalt haben tiefgreifende Konsequenzen für unsere Kenntnisse über das Wesen des Menschen: erstens die Gewalt, und zweitens der Rückgang. In den vorangegangenen sechs Kapiteln habe ich gezeigt, dass die Menschheitsgeschichte eine lange Orgie des Blutvergießens war. Wir haben von Stammesfehden und -überfällen erfahren, bei denen die Mehrzahl der Männer ums Leben kam, von der Beseitigung von Neugeborenen, durch die die Mehrzahl der Mädchen ums Leben kam, von der Inszenierung von Folter als Rache oder zur Unterhaltung, und von der Tötung so vieler Opfergruppen, dass man damit eine ganze Seite eines Reimwörterbuches füllen könnte: Mord, Massenmord, Völkermord, politischer Mord, Königsmord, Kindesmord, Säuglingsmord, Brudermord, Frauenmord, Gattinnenmord, Gattenmord, und Terrorismus durch Selbstmord. Überall in der Geschichte und Vorgeschichte unserer Spezies finden wir Gewalt, und nichts deutet darauf hin, dass sie an einem Ort erfunden worden wäre und sich dann ausgebreitet hätte.
Die gleichen Kapitel enthalten aber auch fünf Dutzend Diagramme, in denen die Entwicklung der Gewalt über längere Zeit hinweg aufgezeichnet ist; alle zeigen eine Linie, die in Kurven von links oben nach rechts unten verläuft. Keine einzige Kategorie der Gewalt blieb während der gesamten Geschichte auf dem gleichen Niveau. Was auch die Gewalt verursacht, es ist kein dauerhafter Drang wie Hunger, Sexualität oder das Bedürfnis, zu schlafen.
Der Rückgang der Gewalt versetzt uns also in die Lage, mit einem Zwiespalt aufzuräumen, der jahrtausendelang im Weg stand, wenn man die Wurzeln der Gewalt verstehen wollte: mit der Frage, ob die Menschheit grundsätzlich gut oder schlecht ist, Affe oder Engel, Falke oder Taube, die hässliche Bestie eines Lehrbuch-Hobbes oder der edle Wilde eines Lehrbuch-Rousseau. Wenn Menschen sich selbst überlassen sind, verfallen sie nicht in einen Zustand der friedlichen Kooperation, aber sie haben auch keinen Blutdurst, der regelmäßig gestillt werden müsste. In Konzepten, die dem menschlichen Geist mehrere Teile zugestehen – in Begriffen wie Psychologie der Veranlagungen, Mehrfachintelligenzen, geistige Organe, Modularität, spezifische Domänen und der Metapher vom Geist als Schweizer Taschenmesser – muss zumindest ein Fünkchen Wahrheit stecken. Zur Natur des Menschen gehören Motive wie Raublust, Herrschaftstrieb und Rache, die uns zu Gewalt drängen, aber auch Motive, die uns – unter den richtigen Voraussetzungen – zu Frieden veranlassen, wie Mitgefühl, Gerechtigkeitsgefühl, Selbstbeherrschung und Vernunft. Dieses und das nächste Kapitel beschäftigen sich mit solchen Motiven und mit der Frage, unter welchen Umständen sie zum Tragen kommen.
Das reine Böse, innere Dämonen und der Rückgang der Gewalt
Zu Beginn dieses Kapitels habe ich Baumeisters Theorie über den Mythos des reinen Bösen vorgestellt. Wenn Menschen moralisieren, versetzen sie sich in das Opfer hinein und gehen davon aus, dass alle Gewalttäter Sadisten und Psychopathen sind. Moralisten neigen deshalb dazu, den historischen Rückgang der Gewalt als Ergebnis eines heldenhaften Kampfes zwischen Gerechtigkeit und Bösem zu betrachten. Die Generation der Großeltern hat die Faschisten besiegt; die Bürgerrechtsbewegung hat die Rassisten besiegt; Ronald Reagans verstärkte Bewaffnung in den 1980 er Jahren erzwang den Zusammenbruch des Kommunismus. Heute gibt es auf der Welt sicher böse Menschen – naheliegende Kandidaten sind sadistische Psychopathen und narzisstische Despoten –, und mit Sicherheit gibt es auch Helden. Aber zu einem großen Teil ist die Gewalt offenbar dadurch zurückgegangen, dass die Zeiten sich gewandelt haben. Despoten sind gestorben und wurden nicht durch neue Despoten ersetzt; Unterdrückerregimes hörten auf zu existieren, ohne bis zum bitteren Ende zu kämpfen.
Die Alternative zum Mythos des reinen Bösen lautet: Das meiste, was Menschen anderen Menschen antun, entspringt Motiven, die jeder normale Mensch in sich trägt. Daraus folgt, dass der Rückgang der Gewalt von Menschen ausgeht, die diese Motive
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