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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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wurden diese geschlagen, wenn sie niesten; glaubten sie an die angeborene Unschuld, wurde das Dodgeballspielen verboten. Als ich vor einigen Tagen mit dem Fahrrad unterwegs war, wurde ich an die neueste Mode in Sachen menschlicher Natur erinnert: Eine Mutter und ihre beiden Kinder im Vorschulalter schlenderten die Straße entlang. Das eine Kind quengelte und weinte, das andere wurde von seiner Mutter ermahnt. Als ich die drei überholte, hörte ich, wie die Mutter mit strenger Stimme nur ein Wort aussprach: »Empathie!« [3]
    Wir leben in einem Zeitalter der Empathie. Das verkündet ein Manifest des angesehenen Primatenforschers Frans de Waal, eines aus einer ganzen Welle von Büchern, die sich am Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends für diese Fähigkeit der Menschen einsetzen. [1644] Die folgende Auswahl von Titeln und Untertiteln gehören zu Werken, die in den letzten zwei Jahren erschienen sind:
The Age of Empathy
[dt.
Prinzip Empathie
],
Why Empathy Matters, The Social Neuroscience of Empathy, The Science of Empathy
[dt.
Woher wir wissen, was andere denken und fühlen
],
The Empathy Gap, Why Empathy is Essential (and Endangered), Empathy in the Global World
. In einem weiteren Buch mit dem Titel
The Empathic Civilization
[dt.
Die empathische Zivilisation
] erläutert der Aktivist Jeremy Rifkin die Vision:
    Biologen und Kognitionsforscher entdecken Spiegelneuronen – die sogenannten Empathieneuronen –, die Menschen und andere biologische Arten in die Lage versetzen, die Lage eines anderen zu fühlen und zu erleben, als wäre es die eigene. Wir sind, so scheint es, die sozialsten Tiere und bemühen uns um enge Teilhabe und Gemeinschaft mit unseren Mitmenschen.
    Die Sozialwissenschaftler beginnen ihrerseits ebenfalls, die Menschheitsgeschichte durch die empathische Brille neu zu bewerten, und dabei entdecken sie zuvor verborgene Handlungsstränge, die darauf schließen lassen, dass die Evolution des Menschen sich nicht nur an der Ausweitung unserer Macht über die Natur bemisst, sondern auch an der Verstärkung und Ausweitung der Empathie auf immer vielfältigere andere sowie über immer größere zeitliche und räumliche Bereiche hinweg. Die wachsenden wissenschaftlichen Befunde, wonach wir grundsätzlich eine empathische Spezies sind, haben tiefgreifende, weitreichende Auswirkungen für unsere Gesellschaft und könnten durchaus auch über unser Schicksal als Spezies bestimmen.
    Was wir jetzt brauchen, ist nicht weniger als ein Sprung hin zu einem globalen empathischen Bewusstsein, dann werden wir in weniger als einer Generation die Weltwirtschaft wieder auferstehen lassen und der Biosphäre neues Leben einhauchen. Damit lautet die Frage, welcher Mechanismus schafft die Möglichkeit, dass empathische Sensibilität heranreift und das Bewusstsein sich im Laufe der Geschichte erweitert? [1645]
    Vielleicht trichterte die Mama am Straßenrand ihrem kleinen Jungen den Begriff der Empathie also nicht nur deshalb ein, damit er aufhörte, seine Schwester zu piesacken, sondern weil sie bestrebt war, das globale Empathiebewusstsein zu erweitern. Vielleicht stand sie ja unter dem Einfluss von Büchern wie
Teaching Empathy, Teaching Children Empathy
oder
The Roots of Empathy: Changing the World Child by Child
, dessen Autor nach einer Bemerkung des Kinderarztes T. Berry Brazelton »nach nichts Geringerem strebt als nach dem Weltfrieden und dem Schutz für die Zukunft unseres Planeten, wobei er überall in den Schulen und Klassenzimmern beginnt, Kind für Kind, Elternteil für Elternteil, Lehrer für Lehrer«. [1646]
    Nun, ich habe nichts gegen Empathie. Nach meiner Überzeugung ist Empathie – im Allgemeinen, aber nicht immer – etwas Gutes, und ich habe mich in diesem Buch mehrfach darauf berufen. Eine Ausweitung der Empathie kann vielleicht teilweise erklären, warum Menschen heute grausame Bestrafungen verabscheuen und stärker an die Kosten von Kriegen in Form von Menschenleben denken. Aber Empathie wird heute auch zu dem, was die Liebe in den 1960 er Jahren war – zu einem sentimentalen Ideal, das in Schlagworten gepriesen wird (was die Welt am Laufen hält, was die Welt heute braucht, alles was du brauchst), als Faktor zur Verminderung der Gewalt aber überschätzt wird. Als Amerikaner und Sowjets aufhörten, mit dem atomaren Säbel zu rasseln und Stellvertreterkriege anzufachen, hatte das nach meiner Überzeugung kaum etwas mit Liebe oder Empathie zu tun. Und auch wenn ich gern glauben möchte,

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