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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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eine Schöpfkelle, oder das Gesäß des Kindes wurde entkleidet, um die Schmerzen und die Demütigung zu verstärken. In einem Ablauf, der in Kindergeschichten während der 1950 er Jahre häufig vorkam, warnt die Mutter das unartige Kind: »Warte nur, bis dein Vater nach Hause kommt.« Anschließend zieht der stärkere Elternteil seinen Gürtel aus der Hose und züchtigt damit das Kind. Auch andere Methoden, um Kinder mit körperlichen Schmerzen zu bestrafen, wurden häufig beschrieben: Man schickte sie zum Beispiel ohne Abendessen ins Bett oder wusch ihnen den Mund mit Seife aus. Noch brutaler wurden Kinder behandelt, wenn sie auf Gedeih und Verderb fremden Erwachsenen ausgeliefert waren. In einer Zeit, an die ich mich noch gut erinnern kann, wurden viele Schulkinder auf eine Weise diszipliniert, die man heute als »Folter« einstufen würde und für die der Lehrer ins Gefängnis käme. [57]
     
    Die Menschen halten die Welt heute für besonders gefährlich. Man kann kaum die Nachrichten einschalten, ohne mit der wachsenden Gefahr terroristischer Anschläge, eines Kampfes der Kulturen und der Anwendung von Massenvernichtungswaffen konfrontiert zu werden. Dabei vergessen wir gern, von welchen Gefahren wir vor einigen Jahrzehnten gelesen haben, und wir stehen nur allzu leicht hochmütig dem Zufall gegenüber, dass sich viele von ihnen heute totgelaufen haben. In späteren Kapiteln werde ich Zahlen präsentieren, aus denen hervorgeht, dass die 1960 er und 1970 er Jahre eine ungeheuer viel brutalere und bedrohlichere Zeit waren als die, in der wir heute leben. Aber vorerst möchte ich eine impressionistische Argumentation vertreten.
    Ich habe meinen Universitätsabschluss 1976 gemacht. Wie die meisten ehemaligen Studenten, so kann auch ich mich nicht an die Entlassungsrede erinnern, mit der man uns in die Welt der Erwachsenen schickte. Deshalb kann ich mir die Freiheit nehmen, heute eine solche Rede zu erfinden. Stellen wir uns einmal vor, ein Experte hätte Mitte der 1970 er Jahre folgenden Zustand der Welt prophezeit:
    »Herr Direktor, Mitglieder der Fakultät, Familie, Freunde, liebe Absolventen von 1976 . Wir leben in einer Zeit großer Herausforderungen. Es ist aber auch eine Zeit großer Möglichkeiten. Wenn Sie sich als gebildete Männer und Frauen auf ihren Lebensweg begeben, zähle ich darauf, dass Sie ihrer Gemeinschaft etwas zurückgeben, dass Sie für eine bessere Zukunft arbeiten und sich darum bemühen, die Welt zu einem angenehmeren Ort zu machen.
    Nachdem wir diesen Punkt abgehakt haben, möchte ich Ihnen etwas Interessanteres sagen. Ich möchte Ihnen meine Vision von der Welt mitteilen, wie sie zur Zeit Ihres fünfunddreißigjährigen Examensjubiläums aussehen wird. Der Kalender wird in ein neues Jahrtausend gewechselt haben, und dieses Jahrtausend wird eine Welt mit sich bringen, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegt. Damit meine ich nicht den technischen Fortschritt, obwohl auch er Auswirkungen haben wird, die wir uns kaum ausmalen können. Mir geht es vielmehr um den Fortschritt von Frieden und Sicherheit, der für Sie vielleicht noch schwieriger vorstellbar ist.
    Sicher, die Welt wird auch 2011 noch gefährlich sein. Wie heute, so wird es auch in den nächsten 35  Jahren Kriege geben, und wie heute wird Völkermord stattfinden, in einigen Fällen an Orten, die niemand vorhergesehen hätte. Kernwaffen werden immer noch eine Bedrohung sein. Manche gewalttätigen Regionen der Welt werden weiterhin gewalttätig sein. Aber diese Konstanten werden von unvorstellbaren Veränderungen überlagert sein.
    Zuerst und vor allem wird der Albtraum, der unser Leben seit unseren frühesten Erinnerungen an das Verstecken in Luftschutzräumen überschattet hat – nämlich der nukleare Weltuntergang in einem Dritten Weltkrieg –, zu Ende sein. In ungefähr zehn Jahren wird die Sowjetunion mit dem Westen Frieden schließen, und der Kalte Krieg wird vorüber sein, ohne dass ein einziger Schuss abgefeuert wurde. Auch China wird als militärische Bedrohung von den Radarschirmen verschwinden; stattdessen wird es unser wichtigster Handelspartner werden. In den nächsten 35  Jahren wird keine einzige Atomwaffe gegen einen Feind eingesetzt werden. Es wird zwischen den größeren Staaten sogar überhaupt keine Kriege mehr geben.
    Und das sind nicht die einzigen guten Nachrichten. Der Osten Deutschlands wird seine Grenzen öffnen, und fröhliche Studenten werden die Berliner Mauer mit Spitzhacken in kleine Stücke

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