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Gewalt

Gewalt

Titel: Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Pinker
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gleich erschaffen sind.«
    Martin Luther King, Jr.
    In meiner Jugend war ich nicht besonders kräftig, schnell oder gewandt. Das machte organisierten Sport zu einem Spießrutenlaufen der Demütigungen. Basketball bedeutete, dass ich ein paar aufgefangene Bälle in die ungefähre Richtung des Korbbretts warf. Beim Seilklettern hing ich ein paar Zentimeter über dem Boden wie ein Klumpen Seetang an einer Angelschnur. Und Baseball bestand für mich aus langen Pausen auf dem sonnenversengten rechten Feld, wobei ich betete, dass kein Ball in meine Richtung geflogen kam.
    Nur eine Begabung rettete mich davor, unter den Gleichaltrigen zum ewig Ausgestoßenen zu werden: Ich fürchtete mich nicht vor Schmerzen. Solange die Schläge fair und direkt und ohne menschliche Erniedrigung kamen, konnte ich mich mit den Besten messen. Die Jungenkultur, die in einem Paralleluniversum zu dem der Sportlehrer und Jugendbetreuer gedieh, bot mir eine Fülle von Gelegenheiten, mich zu rehabilitieren.
    Beim Pickup-Hockey und Tackle Football (ohne Helm und Gelenkschoner) konnte ich andere und mich selbst in die Bande schmeißen oder in einem Gedränge aus Körpern nach fallen gelassenen Bällen tauchen. Dann gab es das Spiel »Mörderball«: Ein Junge schnappte sich einen Volleyball und zählte die Sekunden, während die anderen auf ihn eindroschen, bis er den Ball fallen ließ. Oder »Horse« (was die Betreuer, zweifellos auf Anraten von Juristen, streng verboten hatten): Ein dickes Kind (das »Kissen«) lehnte sich an einen Baum, ein Mannschaftskamerad beugte sich vornüber und klammerte sich an den Bauch des Dicken, und alle anderen bildeten eine Reihe aus Rücken, indem jeder sich vornübergebeugt an seinem Vordermann festhielt. Die Spieler der gegnerischen Mannschaft sprangen dann nacheinander mit Anlauf auf den Rücken des »Pferdes«, bis dieses entweder zu Boden ging oder die Reiter drei Sekunden lang trug. Und abends wurde Knucks gespielt, ein verbotenes Kartenspiel, bei dem der Verlierer mit dem Kartenstapel Schläge auf die Fingerknöchel erhielt. Wie viele Schläge dabei mit der flachen Karte und mit der Kante ausgeführt wurden, richtete sich nach dem Punkteunterschied, und als Einschränkung gab es komplizierte Regeln über Zusammenzucken, Kratzen und übermäßige Kraft. Unsere Mütter inspizierten regelmäßig unsere Fingerknöchel und suchten nach Schorf und blauen Flecken.
    Nichts, was von Erwachsenen organisiert wurde, konnte mit diesen rauschhaften Freuden mithalten. Am nächsten kam ihnen noch Dodgeball, ein Spiel mit einem ekstatischen Chaos: Man versteckte sich hinter aggressiven Mannschaftskameraden, duckte sich vor Wurfgeschossen, warf sich auf den Boden und stellte sich tot bis zum letzten tödlichen Schlag von Gummi auf Haut. Es war im Lehrplan des Faches mit dem Orwell’schen Namen »Leibeserziehung« die einzige Sportart, auf die ich mich wirklich freute.
    Heute dagegen hat das Geschlecht der Jungen wieder eine Schlacht in dem uralten Kampf mit Ferienlagerbetreuern, Sportlehrern, Juristen und Müttern verloren. In einem Schulbezirk nach dem anderen
wurde Dodgeball verboten
. Den Grund erklärte die National Association for Sport and Physical Education in einer Verlautbarung, deren Autor offenbar selber nie ein Junge war und höchstwahrscheinlich auch nie einen kennengelernt hatte:
    Nach Ansicht der NASPE ist Dodgeball keine angemessene Aktivität für den Sportunterricht in der Grund- und Oberschule. Manche Kinder mögen es vielleicht – die Geschicktesten, die Selbstbewusstesten. Aber viele andere mögen es nicht! Sicherlich nicht der Schüler, der einen harten Schlag in den Magen, an den Kopf oder in die Leistengegend erhält. Und es ist nicht angemessen, unseren Kindern beizubringen, dass man gewinnt, indem man anderen Schmerzen zufügt.
    Ja, auch das Schicksal des Dodgeball ist wieder einmal ein Zeichen für den historischen Rückgang der Gewalt. Gewalttätige Freizeitgestaltung hat in unserer Abstammungslinie eine lange Tradition. Schaukämpfe sind bei jungen Primatenmännchen weit verbreitet, und wilde Spiele sind bei Menschen einer der am besten belegten Geschlechtsunterschiede. [1037] Die Kanalisierung solcher Impulse in Extremsportarten ist über viele Kulturgrenzen hinweg und in der gesamten Geschichte vielfach zu beobachten. Neben den Gladiatorenkämpfen im alten Rom und den mittelalterlichen Ritterturnieren gehören zur blutigen Geschichte des Sports auch Freizeitkämpfe mit spitzen Stöcken im

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