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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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Wieso höre ich sie nicht? Vielleicht schläft sie nebenan auf dem Bett. Ich liege auf dem Sofa, beobachte die Bilder überm Schreibtisch; Gesichter, Nackte, eine Eisgiraffe, ich. Wir wollen rudern fahren, nachher.
    Ich habe ein paar Wochen lang geschrieben. Wenn ich schreibe, muss ich allein sein. Mein Hund lebt noch. Vor zwei Tagen hat er meine Küche vollgeschissen. Schwarz, dünnflüssig, mit Schleim und etwas Blut durchsetzt. Ich hatte schon die Nummer vom Tierarzt bereitgelegt, der Tierbestatter ist rund um die Uhr erreichbar. Er hätte die Leiche weggeschafft zur Einzelkremierung, zweihundertsiebzig Euro plus diverse Nebenkosten wegen der Ascherückführung in einer Urne. Doch das alte Tier hat sich noch einmal berappelt. Kohletabletten und Schmerzmittel. Es geht ihm wieder ganz gut, ich spüre das. Er hat den ganzen Vormittag im Hof in der Sonne gelegen. Dort will ich auch die Urne vergraben, unter einem alten Kirschbaum. Die Kirschen hat er bis zum letzten Jahr gerne gegessen, wenn sie halb vergoren auf der Wiese lagen. Ich
glaube, das war wegen des Alkohols. Leicht schwankend ist er dann über den Hof und die Wiese gelaufen, die Schnauze am Boden, auf der Suche nach Rauschverstärkung. Jetzt hat er kein Interesse mehr an vergorenen Kirschen.
    Meine Frau ist zu Besuch, schreibe ich. Wir wollen rudern fahren. Ich kann nicht immer nur alleine sein und schreiben. In Wahrheit schreibe ich selten und dosiert, liege die meiste Zeit auf meinem Bett oder dem Sofa, bewege den
Rohstoff
in meinem Kopf, bin in Paralleluniversen, wenn die Portale sich öffnen, ansonsten warte ich ... (Ein Physiker in Dresden hat sich den Kopf weggesprengt, wartend, im Schlaf, genauer: in einer bestimmten Periode des Tiefschlafes; eine selbst vom BKA kaum zu entschlüsselnde Apparatur hat den Sprengstoff in einer Art Helm zur Explosion gebracht, sobald diese Tiefschlafphase erreicht wurde, damit sein Unterbewusstsein, mit seiner Seele, in einem Sekundenbruchteil durch das geöffnete Portal in eine andere Dimension gelangen konnte. Mir geht das oft durch den Kopf, wenn ich liege, warte, Dresden, Leipzig –)
    Mein Antiquar, von der
Bücherinsel
, hat uns zum Rudern eingeladen, ich bin noch nie rudern gewesen, zwar schon ein-, zweimal in einem Boot, aber nicht aktiv an der Fortbewegung teilnehmend. Eigentlich hasse ich solche umständlich endenden Sätze. Meine Frau ist zu Besuch? Ich schreibe und lebe in den Nächten, schlafe am Tag, sehe kein Licht mehr über Wochen, obwohl die Sonne jetzt im Sommer sehr spät untergehen müsste, aber der Planet bewegt sich in einer immer steiler werdenden Ellipse von ihr weg, wenn ich schreibe; und ich suche Stille,
Klarheit
, oder warte ich? Wir müssen bald los.
    Ich trage nur ein Unterhemd über der Hose, weil es so
warm ist. Seit Wochen habe ich Rückenschmerzen, die strahlen aus in meinen gesamten Unterleib und bis runter in die Beine, ich spüre meine Hoden und meine Prostata auf eine unangenehme Art und Weise und mache Gymnastik, Ausgleichssport, gehe schwimmen. Sehe deshalb ganz gut aus in diesem Unterhemd, denke ich. Die Stadt wird von vielen kleineren Flüssen und Kanälen zerschnitten, Pleiße, Parthe, Elstermühlgraben, Weiße Elster, Karl-Heine-Kanal. Der Stadt fehlen Berge und ein großer Fluss. (Wien, Dresden, Bratislava, Halle/Saale, Saragossa, New York.) Es klingelt. Wir haben nicht viel an, ich suche ein frisches Hemd und werde nicht öffnen. Aber es klingelt weiter. Es ist ein aggressives Klingeln geworden, zwei-, dreimal hintereinander, Pause, dann wieder zwei-, dreimal hintereinander. Ich öffne grundsätzlich nicht, wenn ich nicht weiß, wer draußen steht. Meine Frau weiß das, und auch sie verhält sich ruhig. Ich schleiche zum Fenster. Ich wohne im Erdgeschoss und sehe das Hinterrad eines Fahrrads durch die Lamellen der Jalousie. Das Vorderteil und der dazugehörige Mensch stehen anscheinend schon auf der Schwelle der Haustür. Ich werde nicht öffnen. Es ist 15 Uhr 45 , und gegen 16 Uhr 30 wollen wir bei den Booten sein. Der Hund hat angefangen zu bellen. Es ist mehr ein heiseres Husten und Grollen, manchmal, nachts, hustet er minutenlang im Halbschlaf wie ein Schwindsüchtiger, Doc Holliday. Ich weiß nicht, warum ich an Doc Holliday denken muss, diesen Tbc-kranken Revolverhelden und Spieler, der eigentlich ein Zahnarzt war. Wollte ich den nicht zu einem Romanhelden machen, auf mysteriöse Weise in die Gegenwart versetzt?
    Aber das spielt keine Rolle jetzt, denn der Mann vor

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