Gewalten
meiner Tür wird den Hund hören, das Fenster ist gekippt.
Wenn ich es schließe, wird uns das verraten. »Clemens!« Fast ein Schrei. Er klingt wie sein älterer Bruder. Der ist tot, seit sieben, acht Wochen. Big Boy und Little Boy, wie die beiden Brüder in diesem Neo-Western.
Hi Lo Country
. Ich wollte sie zuerst nach dem Bruderpaar in dem Western
The Wild Bunch
benennen, Lyle und Tector Gorch, die am Ende brüllend in ihren Untergang gerannt sind. Little Boy erschießt Big Boy, Kain und Abel, aber eigentlich passt das nicht zu dem Mann, der draußen steht, und seinem toten Bruder. »Sie konnten nicht miteinander, aber sie konnten auch nicht ohne einander«, hat ihre Mutter mir mal gesagt. Also LB und BB , ich muss mich entscheiden, auch wenn es vielleicht blöd klingt.
Aber ich muss die Realität etwas umgestalten, muss die beiden schützen auf ihren immer steiler werdenden Wegen, der Lebenden und der Toten, und bevor ich die Antike nach passenderen Brüdernamen durchsuche, die nordische Mythologie vielleicht (Thor und Loki – der Donner und die List), und ich suche
Klarheit
, Big Boy und Little Boy. Ich nenne meinen Hund manchmal Boy (am liebsten nenne ich ihn Schwarz-Äug wegen seiner dunklen Augen), und nennt meine Frau mich nicht auch Boy bisweilen?, ich verändere die Realität. (Im Kosmos des Timm Thaler taucht eine Gestalt namens Boy auf, erstmals sogar in der Stadt Leipzig.)
»Ich bin’s, Clemens, mach doch auf!«
Ich drücke den Summer. Ich höre, wie er an der Haustür rüttelt. Jemand hat abgeschlossen, obwohl erst Nachmittag ist, und ich hole den Schlüssel und gehe durchs Treppenhaus runter zur Tür. Ich lasse ihn rein, er stellt sein Fahrrad an den Kasten mit den Stromzählern. Am Lenker ist eine Hupe, ein kleines, silbernes Horn mit einer Gummikugel,
die man zusammendrücken muss. »Komm kurz rein«, sage ich, »hab nicht viel Zeit.« Dann umarmen wir uns. Er fragt, ob ich was zu trinken habe. Alkohol. Nein, sage ich. Ich habe noch ein paar Flaschen Weißwein in der Küche, aber wenn ich eine öffne, also die erste öffne, können wir nicht mehr über die kleinen Flüsse rudern. Er riecht nach Schnaps. Er ist jetzt dreißig Jahre alt, drei Jahre jünger als sein toter Bruder, und ich kenne ihn, seit er vierzehn ist. BB und LB gehören zu den acht oder neun besten Freunden, die ich habe. Wir haben viel zusammen erlebt, sind im selben Viertel aufgewachsen, wohnen immer noch dort, und wenn wir uns treffen, erzählen wir immer wieder dieselben alten Geschichten. Abstürze, Ausbrüche, Märchen und Legenden über verrückte Menschen, Frauen, Bullen, Brüche, Verlorengegangene, wahnsinnig Gewordene, Komisches auch, worüber wir lachen müssen ... »Wie geht's Trinker-Thilo?«
»Nicht so gut. Lässt sich jetzt in den Arsch ficken und lutscht Schwänze.«
»Sicher?«
LB ist sich sicher, erzählt von dem Typen, der immer im Taucheranzug aus Neopren schläft, »stockschwul, der Gummimann«, der ist spindeldürr, denn er schwitzt Liter in diesen Anzügen. Als ich ihn zum ersten Mal vor ein paar Jahren bei Trinker-Thilo traf, hatte er einen großen Plastikbeutel dabei, in dem war der Anzug, anscheinend plante er von Anfang an, bei Trinker-Thilo zu schlafen. Er ist auch nie allein dort, hat seinen Freund dabei, den schwulen Ralf, der jedes Mal, wenn er bei Trinker-Thilo schlief, dessen Bett (anfangs überließ Trinker-Thilo es Ralf und legte sich aufs Sofa) vollpisste und vollwichste. (»Eine riesen Sauerei«, sagt Trinker-Thilo, »ich musst’s bei 90 Grad waschen.«
»Verdammt nochmal, ich würd’ den rausschmeißen oder durch die Scheibe kloppen!«) LB erzählt, dass die beiden jetzt Trinker-Thilos einzige Freunde sind, Trinker-Thilo hat seit über zehn Jahren keine Frau gehabt, vielleicht ist diese große Einsamkeit der Grund dafür, dass er nicht mehr allein auf dem Sofa schläft. Vielleicht hat er Spaß dran? Wer weiß. (Ich habe irgendwann im Frühjahr mein Diktiergerät mitlaufen lassen, als mein Freund LB bei mir war, ohne dass er es merkte, da lebte sein Bruder noch. Ich höre mir das manchmal an, aber ich will es nicht verwenden, wir haben getrunken, nein gesoffen, vollkommen enthemmt, und geredet, nein gebrüllt, vollkommen enthemmt, es ist ein einziger Strom des Wahnsinns. Ich bin sonst skrupellos, aber ich muss LB schützen, nicht zu viel Realität, vor allem jetzt, wo sein Bruder tot ist. Ich habe auch nicht die Kraft, all das abzuschreiben, winzige Details reichen manchmal, die sind ja
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