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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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dran denken.
    Komm gut rüber, sage ich. Du auch, sagt er.
    Als er weg ist, ich höre ihn noch eine Weile draußen auf der Straße (die Hupe?), fällt mir ein, dass ich ihm diesen beschrifteten Bieruntersetzer schenken wollte, den ich im Mai aus der
Bukowski Tavern
in Boston mitgebracht habe. LB liebt Bukowski, hat alles von ihm gelesen. Vor ein paar Jahren habe ich ihm Hemingways
49 Stories
geschenkt, die Ausgabe, die ich 1997 am Fuß der Sierra Morena gelesen habe, in der Nähe von Cordoba, eine Stadt mit einem großen Fluss und Bergen.
    Ich glaube, aber hoffe es nicht, dass er in paar Wochen wieder hier sein wird, im Viertel, keine Malediven, kein Mauritius. Und das Kind und die Krankenschwester? Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. LB kann die Dinge nicht mehr richtig greifen, geht viel zu oft durch die Portale, seit sein Bruder weg ist; die Realitäten entgleiten ihm, vielleicht ist
sein
Helm mit dem Sprengstoff drin endgültig
explodiert. Der Hund liegt immer noch auf dem Teppich, und als er aufsteht und ins Schlafzimmer humpelt, wo seine Matratzengruft ist, sehe ich den braunen zähflüssigen Klecks, rieche ihn jetzt auch. Ich hole Klopapier und Essigreiniger und ziehe mir Gummihandschuhe über. Meine Hände schwitzen, während ich auf dem Teppich hocke. Wir wollen rudern gehen, sage ich zu meiner Frau. Ich will mein (erdachtes? geträumtes? NEIN ) Idyll zurück.
    Mein Antiquar wohnt in einem kleinen Waldstück, das mitten in der Stadt liegt. Hinter dem zweistöckigen Häuserkomplex fließt der Elstermühlgraben. Ich will es kurz machen: 17 Uhr, wir lassen die Boote zu Wasser. Wir sind zu fünft, ein Zweisitzer und ein Dreisitzer, Kanus.
    Die Böschung fällt steil ab, der Wasserlauf ist schmal und schlammig. Eine tote Ratte schwimmt dort, aufgedunsen und dunkelrot, wo sie aufgeplatzt ist.
    Ich sitze in der Mitte des Dreierkanus, mein Antiquar im Heck, seine Frau vorne im Bug. Das andere Kanu fährt schon, ich sehe die Haare des vollbärtigen Kapitäns, er hat sie seit Jahren nicht geschnitten (aber ab einer bestimmten Länge hören sie auf zu wachsen, hat er mir mal gesagt), wie Robinson Ahab auf großer Fahrt, sie haben lange Paddel mit einem Ruderblatt an jedem Ende, fast synchron tauchen die beiden die Paddel in das dunkle Wasser, wie eine seltsame Schmetterlingsmechanik sieht das aus im Gegenlicht, die Sonne steht tief zwischen den Bäumen. Wir haben kurze Paddel, abwechselnd stoßen wir sie nach links und rechts. Wir nehmen Fahrt auf, gleiten in den Wald. Es ist schattig auf dem kleinen Fluss, Bäume wachsen bis an die Ufer auf beiden Seiten. Die Baumkronen berühren sich fast über uns, immer wieder müssen wir Äste
und Zweige in Kopfhöhe umfahren. Der Zweier mit Ahab und meiner Frau ist kaum noch zu sehen, sie machen gute Fahrt. Wir haben mehr Tiefgang, mein Ruder stößt ab und zu auf Grund, wir setzen auf Sand- und Schlammbänken auf, müssen uns gemeinsam abstoßen. Ein großer Reiher flattert langsam vor uns her, als wollte er uns den Weg weisen in diesen halbtoten Dschungel, verschwindet dann im Dickicht. Im Uferschlamm stecken Autoreifen und runde steinerne Papierkörbe, die sind noch aus DDR -Zeiten, ein paar Jahre nach der Wende verschwanden sie allmählich aus dem Bild der Stadt, wer hat sie hierher gebracht?, ein verwitterter Pullover zwischen den Zweigen, halb im Wasser, vielleicht ist der Mensch, der ihn mal getragen hat, hier auch irgendwo. Ein kleiner Nebenarm, der zwischen den Bäumen endet, ist versumpft, von grüner Entengrütze bedeckt. Ich würde eine Leiche in einen Sumpf bringen, wenn ich sie entsorgen müsste. Ich denke an den Jungen, der das tote Mädchen letztes Jahr in den See gelegt hat, in dem kleinen Stadtwäldchen, nicht allzu weit von meiner Wohnung entfernt. Ich habe dort mit einem Freund vor Jahren mal einen riesigen Fisch geangelt, der riss an der Schnur, tauchte ab und schnellte wieder hoch, sein Körper sah schleimig und blutig aus, viele Jahre musste er schon in dem See leben, mutiert durch den Dreck und die Abfälle. Er ist jetzt immer noch dort, hat die Sehne zerrissen, ist noch einmal aufgetaucht, im Triumph, fast genau in der Mitte des Sees, und dann getaucht, den Haken in seinem blutigen Maul.
    Mir schlagen Zweige ins Gesicht, vertrocknete Blätter, Insekten müssen dort gewartet haben, die krabbeln jetzt über mein Gesicht und durch meine Haare. Ich lege das Ruder auf meine Knie und schlage das Viehzeug tot, wische
es weg. Was sind das, Fliegen oder

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