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Gewalten

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Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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zweimal am Automaten war und dass meine Spezialmarke verantwortlich ist für diesen gewaltigen Scheißestau, denn um nichts anderes kann es sich handeln, Schreie des Ekels dringen an mein Ohr. Und nur deshalb nehme ich die Gifte an und versuche nicht, sie zu entsorgen im Schacht dieses Scheißhauses in der Stadt M.
    Und das Wasser steigt unten am Fluss, und ein Treiben eben noch auf dem Domvorplatz, all diese Wochenendmenschen, zu denen ich ja auch gehöre, der Mann aus dem
Herrenkrug
, und alle drängen sie in den Dom, doppeltürmig, der geometrisch genau, so habe ich es zumindest gehört und auch gelesen, groß und wuchtig in der Mitte der Stadt M sitzt, und alle Not und alle Angst in sich aufnimmt.
    Es gibt keine Huren in der Stadt M. Sagt der Barkeeper. Sinngemäß. Weil ich ihn gefragt habe, wo es hier Huren gibt. Sinngemäß. Ich habe das Wort »Club« benutzt. Wo man hier einen guten Nachtclub findet, habe ich gefragt. Wegen der Landesregierung, sagt er. Die wollen so was hier nicht. Verteilen deshalb wohl keine Konzessionen. Ich kann mich erinnern, dass ich auf der Internetseite
Hobbyhuren.de
mal ein paar Annoncen von Wohnungsprostituierten in der Stadt M gesehen habe. Aber in der Bildzeitung, die hier in der Bar auslag, stand nichts. Nur Werbung für einen einzigen Club in Wolmirstedt. Aber wo verdammt noch mal ist Wolmirstedt? Wenn du was erleben willst, sagt der Barmann, dann musst du nach Wolmirstedt. Wo ist Wolmirstedt. Gar nicht so weit, sagt der Barmann, ungefähr vierzig mit dem Taxi. Euro, denk ich, oder vielleicht Kilometer oder vielleicht beides, ich kenne die Kilometerpreise
in der Stadt M nicht. Der Domplatz ist leer, es hat aufgehört zu regnen, aber die Scheibe ist noch nass. Ich sehe zwei Tropfen, die von oben kommend ihre Spuren über die Scheibe ziehen, ich favorisiere den Linken, obwohl der noch etwas zurückliegt, aber der Weg nach unten ist noch weit. Nun werde ich aber abgelenkt, weil der Barmann über die Huren und Wolmirstedt erzählt, wo es wohl eine berühmte Bockmühle gibt, was ist eine Bockmühle, habe das Wort noch nie gehört, sicher eine Mühle auf einem Bock, also so, dass man darunter hindurchgehen kann, unter der Mühle hindurch, ein Bock hat ja 4 Standfüße, und darauf die Mühle, so steht sie etwas höher und kann die Winde einfangen. Viel scheint es ja nicht zu geben in diesem seltsamen Wolmirstedt, W ist 23 , Quersumme 5 – 3 , 4 , 5 – das scheint zu passen, und ich zahle. Taxis links neben dem Dom, sagt der Barmann, als er mein Trinkgeld nimmt, der scheint sich ja sicher zu sein, dass ich nach W will, so mir nichts dir nichts mitten in der Nacht, 3 , 4 , 5 , ist aber noch Abend, gegen 8 . Wann genau beginnt die Nacht? Gibt es da eine feste Stunde, sagen wir 9 oder 10 , also 21 und 22 ? Oder hängt das mit den Jahreszeiten zusammen, je nachdem, wann es dunkel wird, man sagt ja auch, die Nächte werden lang, und der längste Tag des Jahres, irgendwann im Juni muss der sein, hat also auch die kürzeste Nacht. Und es ist dunkel draußen, die Regentropfen glitzern auf der Scheibe, wer wohl gewonnen hat von meinen beiden ... der Barmann allein hinterm Tresen, macht das, was Barmänner immer machen, wenn sie allein sind. Ein Tuch und ein Glas, und dann wischt er und wischt er und hört gar nicht mehr auf, dieses eine Glas zu polieren. Und der Dom groß und dunkel vor mir, ich kann den Fluss riechen in der kühlen Luft, die
Konturen dieses Riesenleibes verschwimmen, lösen sich auf in der Nacht (nun doch kein Abend mehr), nur die beiden Türme sehr scharf unter den Wolkenfetzen. Eine kleine Brücke zwischen den Türmen.
    Ich sehe die Lichter der Taxis ein Stück entfernt und öffne die große Tür. Ich will mir keine Gedanken machen, wo all die Leute hin sind, die vorhin noch hier hineingeströmt sind, nein, überhaupt nicht, das geht mich nichts an, die Geheimnisse dieser Stadt sollen mich nicht berühren, sollen mich nicht in ihren Bann ziehen, damit ich nicht auch verschwinde in der 13 , und ich laufe durch den leeren Mittelgang, große spitze Torbögen links und rechts. Erbaut Anfang 13 . Jahrhundert, habe ich irgendwo gelesen, Spätromanik, Gotik, die Stadt muss gebrannt haben um 1200 , ich weiß nicht, woher ich das weiß, vielleicht auch irgendwo gelesen, vielleicht Strahlungen, die solche Orte bisweilen aussenden, und seit Bielefeld bin ich empfänglich für so etwas, vielleicht hat ja die Frau in dem Wohnwagen jetzt keine Kräfte mehr, Otto der Große, 10

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