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Gewalten

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Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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Stamm, meine Mutter, ja, ja, und Moskau später, leider war ich noch nie in Moskau, ja, die weißen Nächte, hab davon gehört, St. Petersburg, Sibirien, die Eisenbahn und der Schnee, Wolmirstedt, dann frierst du ja eigentlich nie hier. Ja.
    Wir trinken und reden, ich bestelle nach, und ein paar Mal legt sie die Hand auf mein Bein.
    Und dann irgendwann, als sie gefragt hat und ich ja gesagt habe, nimmt sie meine Hand, und als ich so hinter ihr laufe, sehe ich, dass sie einen gewaltigen Arsch hat und gewaltige Hüften, ich habe nur in ihr hübsches, rundes
Gesicht geschaut, große, dunkle Augen. Und ich denke, dass das mit Sibirien zu tun hat, die Burjaten, schon wenn sie klein sind, müssen sie sich schützen, gegen die Kälte, ordentlich Polster aufbauen, und das liegt sicher auch in den Genen, und sie zieht mich an dem Riesen vorbei in eins der Zimmer.
     
    Es gibt einen Club in Wolmirstedt, draußen vor der Stadt M. Der liegt über einem Supermarkt, zweistöckig das Gebäude, Plus oder Netto, und wenn der eine schließt, öffnet der andere. Montag bis Samstag.
     
    Und in dem winzigen Zimmer liege ich auf der Frau aus Sibirien, sehe die weite Taiga und die verschneite Tundra, helle Nächte, und ihr rundes Gesicht, das betaste ich, als wäre ich ein Blinder, verscheuche böse Gedanken aus meinem Kopf, und frage mich, was
ich
suche, und was
sie
sucht in diesem Dorf mit der großen Mühle, fühle die Kaiserschnittnarbe der Tschechin, und das Bett ist so schmal, dass ich mich dicht an sie dränge, wenn wir nebeneinanderliegen, zwei Stunden sind lang, ich höre Autos unten auf dem Parkplatz, und ich liege auf ihr, die Augen geschlossen, die Hände auf ihren großen Hüften, der Wohnwagen quietscht, »Öffne deine Augen!«, die Wahrsagerin lacht ...
     
    »Nun ist er nicht mehr in die Bockmühle gegangen, dieser Idiot!« – »In der falschen Mühle ist er gewesen, dieser Bock!« – »Und dabei hat Krabat dort auf ihn gewartet, Krabat der Zauberer, der sogar den schwarzen Müller besiegen konnte unten im Sorbenland ...« – »Ja, weiß ich doch. Vielleicht ist ja die Alte aus Bielefeld schuld.« – »Hm, schon möglich. Vielleicht ein andermal.«

Im Kessel
    Ich fahre nach Hannover. Anfang November 2009 , es wird schnell dunkel, die Uhr wurde am 25 .Oktober umgestellt. Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich in Amerika, und auf dem Rückflug verschoben sich die Zeiten, so dass mir diese eine Stunde erst Tage später auffiel. Ich träumte, das Flugzeug würde abstürzen, als ich auf dem Weg nach Europa die Zeit einholte und ihr voraus war, so real wirkte das, dass ich in meinem Traum mit allem abschloss, während ich senkrecht in der Röhre steckte und mich fragte, wie das wohl so sein wird, zu sterben.
    Ich will nicht mit einem Rätsel beginnen. In dem gelben Herbstlicht draußen wirkt alles sehr real. Ich suche das Glück meines Großvaters. Irgendwann in den Achtzigern gewann er Geld in Hannover. Ich bin noch nie in einer Spielbank gewesen. Schnell ist das gelbe Licht draußen verschwunden, und ich schlafe schon halb. Es ist gut, dass diese Röhre nicht abstürzen kann. Wir müssen irgendwo in der Börde sein, einem großen Urstromtal, in dem es die fruchtbarsten Böden Deutschlands gibt, Kartoffeln wie Felsbrocken, und als ich kurz die Augen öffne, sehe ich die gelben Lichter einer Stadt am Horizont. Ich überlege, ein
Teil meines Hirns noch in den Träumen, wo wir genau sind, welche Stadt das sein kann, an Halle und Köthen sind wir längst vorbei. Gevatter Bach war ein paar Jahre in Köthen, und seine Fugen wehten durch die Börde und das anhaltische Land, jetzt liegt er in meiner Stadt unter den Bodenplatten der Thomaskirche. Ich blicke auf die Schemen der Stadt, der wir uns jetzt nähern,
Völker der Welt, blickt auf diese Stadt
, keine Lautsprecheransage, als wir halten, keiner steigt aus, keiner steigt ein, das schrille Pfeifen des Schaffners,
Völker, höret die Signale
, und dann, als wir in einem geschwungenen Bogen um diese Stadt herumfahren, sehe ich es, und begreife sofort:
    Ein heller Strahl fährt in den Abendhimmel, ein riesiger Scheinwerfer scheinbar im Zentrum der Stadt, der Lichtstrahl öffnet sich nach oben wie ein Trichter, ein großer Buchstabe ist dort inmitten des leuchtenden Kreises zu erkennen, er flimmert, hunderte Meter über der Stadt, M. Ich weiß jetzt, dass ich hier schon einmal war, gar nicht so lange her, aber da gab es dieses Signal noch nicht. Wie in den Batman-Comics, aber da ist

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