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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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Speisewagen. Und je mehr ich versuche, nicht betrunken zu wirken, meine Beine und meinen Körper zu straffen, umso mehr Leute blicken mir hinterher, wie ich da so zu den Bänken schlenkere, Madame L zieht an den Fäden, in ihrem Wohnwagen in Bielefeld sitzend, und meine Gliedmaßen zucken unkontrolliert und spreizen sich vom Körper ab. Und da sitzen auch schon meine Trinkerfreunde, grau und bärtig, Goldkrone, Goldbrand und Batterien von Bier, und zum Glück ist eine Bank frei noch, in die ich versinke.
Sie reisen viel. Sie riskieren Ihr Geld für unsichere Dinge. Sie reisen viel, Sie sind kein Geschäftsmann, ich sehe die Karten eines Spielers. Sie sind ein kreativer Mensch, manche würden sagen ein Künstler. Ihre Eltern haben sich früh getrennt. Ich sehe eine seltsame Beziehung zu Ihrer Schwester
...
Sie haben doch eine Schwester? Die Geometrie verrät Ihnen viel. Sie glauben an die Berechnung und fürchten das Chaos. Verschiedene Gifte
sind in Ihnen, Sie müssen vorsichtig sein mit den Giften. Ich sehe Zahlen
...
    Was für Zahlen?
    Verschiedene. M sehe ich.
    Das ist keine Zahl ...
    13 . Die 13 sehe ich sehr groß. Und 21 und 12 . Quersumme 3 . Und die 13 ist 4 . 3 und 4 , und M ist 13 . Und die 7 kommt dadurch hinzu. Ihr Vorname beginnt mit C oder D. Sagen Sie, wenn es nicht stimmt
...
    Und sie hält meine rechte Hand, streicht mit ihrer darüber, fühlt meine Linien, hat die Augen geschlossen, eben noch hat sie auf meine Hand und die Linien geschaut. Und ich werde müde, nicht einfach nur müde, es ist, als würde etwas herausfließen aus mir, und ich versinke in dem Plastikstuhl, und das Murmeln der Alten dreht sich in meinem Kopf wie das DISCOFEVER . Und sie hält auch meine andere Hand, Lesen aus beiden Händen kostet extra, und für die Karten habe ich auch bezahlt.
Sie haben Angst, aber Sie brauchen das Chaos.
    Auf der Herdplatte der kleinen Einbauküche liegt das Fell eines Fuchses, der Kopf sieht lebendig aus. Ich wünschte, ich wäre ein Telekinet und könnte die Herdplatte über die Entfernung aktivieren. Ein seltsamer Geruch in dem Wohnwagen, der so klein und niedrig ist, dass mein Kopf das Dach berührt.
Sie haben ein Haustier, das Ihnen sehr nahesteht
...
Es ist alt und wird bald sterben.
Und sie legt die Karten, schaut dabei Richtung Tür, bevor sie sie aufdeckt, als würde dort etwas hereinkommen durch den Spalt. Und ich verschwinde in dem Stuhl und hoffe, dass es bald vorbei ist, denn alles fließt aus mir heraus, und wenn sie meine Hände greift, in diese kleine, alte und doch sehr dicke Frau hinein, die da fast zwischen den Wänden ihres
Wohnwagens festzustecken scheint. Und jetzt denke ich, dass sie genauso aussieht wie eine von diesen zwei dicken Frauen, die mir vorhin, auf dem Boulevard der Bielefelder Herbstkirmes lachend entgegenkamen. Aber das ist Unsinn, denke ich, sie wird gewusst haben, dass ich komme, hat gewartet auf mich, wer weiß, wie lange schon.
    Und in der Stadt M, über den Bänken, hängen die Wolken tief, und dennoch spüre ich die Sonne, die es gewohnt ist, durch diese tiefhängenden Wolken zu strahlen. Kraft kehrt zurück, und als ich auf die große Digitaluhr schaue, die, in ein paar Metern Entfernung, mit Hunderten kleiner Lämpchen die Temperatur im Wechsel mit Uhrzeit und Datum anzeigt, ist es 13 Uhr 12 .
Die 4 und die 3 .
Ich stehe auf.
    Und Stunden später, in einer kleinen Bar in der Nähe des Doms, der doppeltürmig und wuchtig wie eine Festung exakt in der Mitte der Stadt steht, erinnere ich das:
    Der
Herrenkrug
liegt am Rand der Stadt M, in den Elbauen. Ich fahr in der Straßenbahn über die Brücken, sehe große Hafenspeicher, der Hauptstrom ist sehr breit hier, kleinere Nebenarme etwas entfernt, viele Bäume dort an den Ufern und bis ins Wasser, das wohl sehr hoch steht, dann bewachsenes Brachland und kleine Parks, je mehr wir uns vom Zentrum entfernen. Die Stadt fasert aus, überall Lücken zwischen den Häusern, Neubau neben Altbau, wieder ein Wohnblock ganz vereinzelt, Grün und Brachland, Reihen kleiner, flacher Häuser stehen schräg gegen die weite Straße, auf der wir fahren. Dann plötzlich ein großer, weißer Gebäudekomplex in einer weit geschwungenen Kurve, wie ein Schloss liegt er in dem Grün, von niedrigen Mauern umgeben, von mehreren Toren durchbrochen, ist das vielleicht der Sitz der Landesregierung?,
neoklassizistische Stalinbauten, strenge Rechtecke, scharfkantige Quader, die Straßenbahn kreischt und klirrt in den Schienen, bis hierhin bin

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