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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens Meyer
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hat, hab ich in eine kleine Kamera geschaut.
Mutter, der Mann mit dem Koks ist da, jawoll, mein Junge, das weiß ich ja.
Hab noch das Taxi wegfahren gesehen hinter mir. Und die Bockmühle paar Minuten vorher. Beeindruckendes Ding. Wie ein Andreaskreuz ragten die Flügel in den Nachthimmel. Dann steh ich vor einer weiteren Tür, die wird geöffnet, von einem Riesen wird die geöffnet, dass ich mir ganz klein vorkomme mit meinen stattlichen Einsachtundachtzig. Guckt der auf mich runter und sagt: »Guten Tag.« Hat eine Trainingshose an und einen Wollpullover. Ist keiner von diesen wahnsinnig breiten Riesen, eher schmal gebaut, aber mindestens zweifünf. Hat ein hageres Gesicht, bräunlich wie altes Leder und verzeiht keine Mine (verzieht keine Miene). Sieht eher aus wie ein arbeitsloser Landarbeiter aus Wolmirstedt. »Immer geradeaus«, sagt er und geht ein Stück mit mir den Gang entlang, eine weitere Tür, die er öffnet, Türen auch links und rechts, und dann stehe ich in dem kleinen, spärlich beleuchteten Raum mit der Bar. Ich scheine der einzige Gast zu sein, die Barhocker sind leer, eine Frau hinterm Tresen, mehrere Frauen, sechs oder sieben bestimmt, sitzen auf Sofas und Sesseln gegenüber der Bar. Musik, achtziger Jahre, Discokugel dreht sich und sprenkelt Licht, Wolmirstedt, Frühling, Sommer, Herbst 2009 . Der Riese zieht die Tür zu, ich gehe zum Tresen, sehe die Frauen tuscheln, setze mich auf einen der Barhocker, sage: »Hallo.«
    »Hallo«, sagt die Barfrau, die ein wenig älter zu sein scheint als die Mädchen in den Sesseln, hat auch mehr an,
sieht sehr seriös aus, womit ich nicht sagen will, dass die Mädchen nicht seriös aussehen, denn was ist seriöser als Haut?, zwei tragen nicht mal einen BH . »Was darf’s denn sein?« Ich bestelle etwas, Campari Soda ist ein gutes Getränk, macht den Atem frisch. Wenn ich den Kopf drehe, kann ich die Mädchen ganz genau sehen, muss aber den Kopf ein ganzes Stück eindrehen, könnte mich ja auch seitlich auf den Barhocker setzen, will aber lässig sein, zünde mir eine an, auch die Barfrau raucht, halte das Glas und die Zigarette in einer Hand, wie ich das mal bei Humphrey Bogart gesehen habe, trinke sehr schnell, dass ich sofort einen zweiten bestellen muss. Auf meinen Reisen bin ich oft eingekehrt, und jedes Mal sind es diese Minuten
dazwischen
, du stehst an der Bar und wartest und trinkst und redest mit der Barfrau oder dem Barmann, wartest, bis der Kontakt eintritt, spürst schon die Energien, den Strom, und du trinkst und redest und rauchst, wenn du in Wohnungen gegangen bist, war es auch dieses
Vorher
und
Dazwischen
, aber anders, denn du bist allein mit ihr, reden, das Geld, die Kleider, reden, lachen, manchmal ein Kaffee, manchmal ein Glas Sekt, das Klingeln des Telefons, reden, die Kleider, Fliesen im Bad, die Haut, du spürst die Energien. Und manchmal sind das die einzigen Orte, wo ich sicher bin.
    »Hallo.«
    »Hallo.« Sie spricht mit Akzent. Setzt sich neben mich. Hat ein sehr hübsches Gesicht, rund und irgendwie russisch, mehr so asiatisch-russisch, schwarze Haare. »Möchtest du was trinken?«
    »Einen Piccolo.« Ich bestelle. Eine zweite Frau setzt sich auf die andere Seite, blond, sehr schlank, aber sie sieht, dass ich mich rüber zu dem runden, russischen Gesicht
lehne, das mir immer mehr gefällt, und die Blonde ist ein wahrer Gentleman, eine Gentlewoman wohl eher, denn sie versucht nicht, in unser
Dazwischen
einzudringen, beginnt ein Gespräch mit der Barfrau. Einmal, in Hannover war das wohl,
Yes Sir
hieß der Laden, das weiß ich noch, saß ich an der Bar, und die Mädchen liefen eins nach dem anderen an mir vorbei, blieben kurz stehen, und ich musste wählen. Komisch das Ganze, und das war auch nicht direkt eine Bar, an der ich da saß, eher eine Art Empfangsbereich, sehr hell und sehr weiß, man kam da sehr schnell zur Sache im
Yes Sir
, dafür war der Prosecco auf dem Zimmer umsonst. War ein sehr liebes Mädchen gewesen in Hannover, ich denk manchmal an sie, eine Tschechin, die kaum Deutsch sprach, mit einer Kaiserschnittnarbe am Bauch. Und wir reden, reden so dies und das, wie geht’s, wo kommst du her, Campari trinke ich auch gerne, möchtest du rauchen?, weißt du, ich konnte früher ganz gut Russisch sprechen, fast alles verlernt, nein, nein, ach was, und wo genau in Sibirien, da muss es ja verdammt kalt ... ach, die Taiga, nein Tundra, und die Burjaten, nein, hab ich noch nie gehört, ein Volk, ach so, du meinst so eine Art

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