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Gewalten

Gewalten

Titel: Gewalten
Autoren: Clemens Meyer
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ich noch nie vorgedrungen auf meinen Besuchen in der Stadt M, meist habe ich nur den Dom gesehen, doppeltürmig, in den früher die Leute flüchteten, wenn das Wasser stieg oder die Pest die Stadt auskämmte oder der Krieg. Ob die Toten aus Dresden bis in die Stadt M kamen mit dem Fluss?
Du sollst diese Stadt, die du nicht kennst, erforschen.
    Warum bin ich hier? (»Endlich stellt er die Frage!« – »Seid doch still und stört ihn nicht!«) Ist es nur der
Herrenkrug
, die Zahl 13 , die M ist? Nein, lassen wir doch diesen esoterischen Mist, es gibt eine Pferderennbahn hier, der
Herrenkrug
, dort bin ich noch nie gewesen. Und der Monat und der Tag? Samstag, Frühling, Sommer, Herbst, was spielt das für eine Rolle, ich habe die letzten Nächte von schwarzen Löchern geträumt, und wie das wohl so ist, draußen im Universum. Und manchmal ist eine Rennbahn der einzige Ort, wo ich sicher bin, sieben Rennen im
Herrenkrug
, auf der Brusttasche meiner Jacke trage ich einen Anstecker von Chemie Leipzig, ein Rechteck, das unten zu einem Dreieck wird, die Rückseite der Tribüne ist von schmalen Säulen durchbrochen, auf denen ein großer Balkon ruht, Neoklassizismus, ziemlich runtergekommen das Ganze, Bretter in den Fenstern, graue Flecken auf dem Weiß, Laubwald rund um die Bahn, eine größere Baumgruppe auch in der Mitte des Ovals, »oh, oh«, rufen sie dicht gedrängt auf der Wiese unterhalb der Tribüne, als die Pferde die Zielgerade erreichen, die Startstelle war verdeckt von der Baumgruppe, aus der plötzlich ein Schwarm Vögel brach, schwarz waren die, »rah, rah, rah«, rufen sie, weil ein Außenseiter die Gerade entlangzieht, vorbei am langgezogenen
Oooo der Fiebernden, das Feld dicht hinter sich, das sind die Eineurotipper, die die hohen Quoten tippen, und die Fünfeurotipper, die auf die Favoriten setzen, wo ist die 4 , wo ist die 3 , mehrere Strommasten auf der anderen Seite der Bahn, auf der Gegengeraden, die ein Stück Horizont freigibt, die mehrspurigen Drähte zwischen den Masten scheinen zu flimmern in diesem Licht, tiefhängende Wolken, ist der Fluss nicht irgendwo dahinter?, ich werde mitgetragen im Strom der Menschen, zwischen Rücken und
Vorderhälften
bin ich eingeklemmt, die Füße kaum noch auf dem Boden, fruchtbare weiche Börde-Erde, der Fremde kann tief einsinken, bis zu den Knien, und gedämpfte Musik aus den Lautsprechern, klingt wie das Klappern der Tasten, Computer oder Schreibmaschine, wer benutzt heutzutage noch eine Schreibmaschine, hier in der Stadt M stehen zwei uralte Fernsehapparate, die Bildschirme in braunes Holz gefasst, auf kleinen Tischen unter den Schrägdächern der Wettschalter, dort warten sie dicht gedrängt, vor den Bildschirmen, auf die Quoten, die Zahlen, die Gewinne, und nur das Verspielte, von dem der Galoppsport sich nährt, nicht eingeblendet, aber hell und leuchtend in den Köpfen der Verlierer, schwarze Löcher, die immer mehr einsaugen, weil wir die Verluste minimieren wollen, ganz egal, wie viel schon im Pott ist (und wir können es immer noch zurückholen, Wettbüro, denn am Abend ist ein Trabrennen im Pott, in Gelsenkirchen), die Schrägdächer ragen nicht weit genug über die historischen TV -Geräte, denn als der Regen beginnt (und das rhythmische Schreibmaschinenhämmern der Musik wie eine Funkstörung aus den Lautsprechern, »and-I-wonderhow-I-wonder-who-stopped-the-train«), tropft und läuft das Wasser in die Apparate.
Lange Sätze
macht dieses Pferd
und löst sich vom Feld, ich kenne es, habe es schon in Halle gesehen, als es auf der Zielgeraden immer unrunder lief und hinter
Leopardo
zurückfiel,
Le Berlin
, groß und wuchtig, unschlagbar in der Stadt M, und die Farben auf dem Bildschirm stimmen nicht mehr, das Wasser tropft ins Innere und zerstört langsam die Steuerungselemente, rosa schimmert der Rasen jetzt in der Wiederholung dieses Zieleinlaufs, grünlich flackern die Pferde, und nicht nur die Farben, auch die Relationen verändern sich wie in den schwarzen Löchern, und der Jockey auf
Le Berlin
teilt sich, hängt nach links, hängt gleichzeitig nach rechts, zweitürmig auf dem Rücken dieses immer breiter werdenden Doms, dann wird das alles kleiner, ein immer kleiner werdendes Quadrat, und wir rücken näher ran, Kapuzen und Regenschirme, als könnten wir es aufhalten, die geringsten Niederschlagsmengen in Deutschland in der Moräne der Saale-Eiszeit, und immer kleiner wird das Bild, aber so langsam, dass wir noch einmal sehen, wie dieses Pferd, das
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