Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens (German Edition)
GFK liegt vermutlich in der Art und Weise, wie wir mit uns selbst umgehen. Wenn wir Fehler machen, können wir mit Hilfe des GFK-Trauerprozesses und mit der Selbst-Vergebung erkennen, wo unsere Wachstumschancen liegen, anstatt uns in moralische Selbstabwertungen zu verstricken. Bewerten wir unser Verhalten in bezug auf unsere unerfüllten Bedürfnisse, dann kommt der Veränderungsimpuls nicht aus Scham, Schuld, Ärger oder Depression, sondern aus einem aufrichtigen Wunsch, zum eigenen Wohlergehen und zu dem anderer Menschen beizutragen.
Wir kultivieren Selbst-Einfühlung auch dadurch, daß wir uns im täglichen Leben bewußt dafür entscheiden, nur im Dienst unserer Bedürfnisse und Werte zu handeln und nicht aus Pflicht, für Belohnungen von außen oder um Schuld, Scham und Bestrafung zu vermeiden. Wenn wir noch einmal die freudlosen Handlungen anschauen, denen wir uns aktuell verschrieben haben, und „ich muß ...“ in „ich wähle frei ...“ übersetzen, dann werden wir mehr spielerische Freude und Integrität in unserem Leben entdecken.
|10| Ärger vollständig ausdrücken
Das Thema Ärger bietet uns eine besondere Chance, noch tiefer in die GFK einzutauchen. Da der Ausdruck von Ärger viele Aspekte dieses Prozesses wie unter einem Vergrößerungsglas deutlich hervortreten läßt, wird an diesem Punkt auch der Unterschied zwischen GFK und anderen Formen der Kommunikation sehr klar.
Ich finde, daß es nicht ausreicht, jemanden umbringen zu wollen. Morden, schlagen, beschuldigen, andere verletzen – ob körperlich oder seelisch – sind alles eher milde Ausdrucksformen von dem, was in uns vorgeht, wenn wir uns ärgern. Wenn wir wirklich wütend sind, dann brauchen wir etwas Kraftvolleres, um unserer Wut ihren angemessenen Ausdruck zu verleihen.
Jemanden umbringen zu wollen reicht nicht aus.
Für viele Gruppen, mit denen ich arbeite, ist diese Sichtweise erleichternd; besonders dann, wenn sie sich mit Unterdrückung und Diskriminierung befassen und ihre Kraft, Veränderungen zu bewirken, stärken wollen. Die Leute in solchen Gruppen fühlen sich nicht wohl, wenn sie die Begriffe „gewaltfreie“ oder „einfühlsame“ Kommunikation hören, weil sie allzuoft dazu gedrängt worden sind, ihren Ärger herunterzuschlucken, sich zu beruhigen und den Status quo zu akzeptieren. Kommunikationsformen, die den Ärger als eine unerwünschte Eigenschaft betrachten, von der man sich irgendwie befreien muß, machen ihnen Kopfzerbrechen. Der hier vorgestellte Prozeß jedoch unterstützt uns nicht darin, die Wut zu ignorieren, klein zu machen oder herunterzuschlucken, sondern sie statt dessen aus vollem Herzen und in ihrer ganzen Wucht auszudrücken.
Den Auslöser von der Ursache unterscheiden
Der erste Schritt zum vollständigen Artikulieren unseres Ärgers besteht darin, die andere Person von jeglicher Verantwortung für diesen Ärger zu trennen. Wir machen uns frei von Gedanken wie: „Er, sie oder die anderen haben mich wütend gemacht, weil sie das und das getan haben.“ Solche Gedankenmuster führen dazu, daß wir unsere Wut nur oberflächlich ausdrücken, indem wir andere beschuldigen oder bestrafen. Wir haben bereits gehört, daß das Verhalten anderer Menschen ein Auslöser für unsere Gefühle sein kann, aber nicht ihre Ursache ist. Wir sind niemals wütend, weil jemand anders etwas gesagt oder getan hat. Wir können das Verhalten der anderen Person als Auslöser identifizieren, und gleichzeitig ist es sehr wichtig, eine klare Trennlinie zwischen Auslöser und Ursache zu ziehen.
Wir sind niemals wütend, weil jemand anders etwas gesagt oder getan hat.
Ich möchte diese Unterscheidung mit einem Beispiel aus meiner Arbeit in einem schwedischen Gefängnis veranschaulichen. Meine Aufgabe bestand darin, den Gefangenen, die sich auf die eine oder andere Weise gewalttätig verhalten hatten, zu zeigen, wie sie ihren Ärger vollständig ausdrücken können, ohne jemanden umzubringen, zu schlagen oder zu vergewaltigen. Während einer Übung, in der sie den Auslöser für ihre Wut bestimmen sollten, schrieb ein Gefangener: „Vor drei Wochen habe ich bei der Gefängnisleitung einen Antrag eingereicht, und sie haben bis jetzt nicht darauf geantwortet.“ Seine Aussage war die klare Beobachtung eines Auslösers, eine Beschreibung, was andere Leute getan hatten.
Dann bat ich ihn, die Ursache seines Ärgers zu schildern: „Als das passiert ist, waren Sie wütend, weil ... was ?“ „Das habe ich Ihnen doch gerade
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