Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens (German Edition)
werden Sie sich bewußt, was Sie zu sich selbst sagen, das Sie so ärgerlich macht.“
John: „Ich sage gar nichts zu mir selbst.“
MBR: „Halt, machen Sie langsamer, hören Sie einfach auf das, was in Ihnen vorgeht.“
John (denkt still nach und dann): „Ich sage zu mir, daß sie keinen Respekt vor Menschen haben; sie sind ein Haufen kalter, gesichtsloser Bürokraten, die sich um niemanden kümmern außer um sich selbst! Die sind wirklich ein Haufen ...
MBR: „Danke, das ist genug. Jetzt wissen Sie, warum Sie sich ärgern – es kommt von dieser Art zu denken.“
John: „Aber was stimmt nicht an dieser Art zu denken?“
MBR: „Ich sage nicht, daß mit dieser Art zu denken irgend etwas nicht stimmt. Fällt Ihnen auf, daß ich das gleiche Denkmuster hätte wie Sie, wenn ich sagen würde, es stimmt mit Ihnen etwas nicht, weil Sie so denken? Ich meine nicht, daß es falsch ist, Leute zu verurteilen, sie gesichtslose Bürokraten zu nennen oder ihre Handlungen als rücksichtslos und egoistisch zu bezeichnen. Wenn Sie jedoch so denken, dann macht Sie das sehr ärgerlich. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre Bedürfnisse: Was sind Ihre Bedürfnisse in dieser Situation?“
John (nach langem Schweigen): „Marshall, ich brauche die Weiterbildung, die ich beantragt habe. Wenn ich diese Weiterbildung nicht bekomme, dann – so wahr ich hier sitze – bin ich wieder in diesem Gefängnis, kaum daß ich draußen war.“
MBR: „Wenn Sie jetzt mit Ihrer Aufmerksamkeit bei Ihren Bedürfnissen sind, wie fühlen Sie sich da?“
John: „Ich habe Angst“.
Wenn wir uns unserer Bedürfnisse bewußt werden, dann macht der Ärger den lebensbejahenden Gefühlen Platz.
MBR: „Versetzen Sie sich jetzt mal in jemanden von der Gefängnisverwaltung. Wenn ich ein Insasse bin, werden meine Bedürfnisse dann eher erfüllt, wenn ich zu Ihnen komme und sage: ,Hallo, ich brauche diese Weiterbildung dringend, und ich habe Angst davor, was passieren wird, wenn ich sie nicht bekomme ...‘ oder wenn ich auf Sie zugehe mit dem Bild eines gesichtslosen Bürokraten in mir? Auch wenn ich das nicht ausspreche, werden meine Augen zeigen, was ich denke. Auf welche Art werden meine Bedürfnisse eher erfüllt?“
(John starrt schweigend auf den Boden.)
MBR: „Hallo, Kollege, was ist los?“
John: „Kann ich jetzt nicht drüber sprechen.“
Drei Stunden später kam John zu mir und sagte: „Marshall, ich wünschte, Sie hätten mir das von heute morgen vor zwei Jahren beigebracht. Dann hätte ich meinen besten Freund nicht umbringen müssen.“
Alle Gewalt ist das Ergebnis davon, daß Menschen wie dieser junge Gefangene auf das Denkmuster hereinfallen, daß ihr Schmerz von anderen Menschen herrührt und daß es diese Menschen konsequenterweise verdienen, bestraft zu werden.
Gewalt entsteht von dem Glauben, daß andere Menschen unsere Schmerzen verursachen und dafür Strafe verdienen.
Ich sah einmal meinen jüngeren Sohn ein Fünfzig-Cent-Stück aus dem Zimmer seiner Schwester nehmen. Ich sagte: „Brett, hast du deine Schwester gefragt, ob du das haben kannst?“ „Ich habe es ihr nicht weggenommen“, antwortete er. Ich rief mir meine vier Möglichkeiten ins Gedächtnis. Ich hätte ihn einen Lügner nennen können, was jedoch gegen meine Bedürfniserfüllung gearbeitet hätte, da jedes Urteil über eine andere Person die Wahrscheinlichkeit sinken läßt, daß sich unsere Bedürfnisse erfüllen. Es war entscheidend, worauf ich in diesem Augenblick meine Aufmerksamkeit richtete. Wenn ich ihn als Lügner verurteilte, geriet ich in eine Sackgasse. Wenn ich ihn so interpretierte, daß er mich nicht genügend respektierte, um mir die Wahrheit zu sagen, geriet ich in eine andere Sackgasse. Wenn ich mich in diesem Moment jedoch entweder auf ihn einstimmte oder offen zur Sprache brachte, was ich fühlte und brauchte, dann würde ich die Chance, daß sich meine Bedürfnisse erfüllten, immens erhöhen.
Wir erinnern uns an die vier Reaktionsmöglichkeiten, wenn wir eine Aussage hören, die für uns schwierig ist:
1. Uns selbst die Schuld geben.
2. Anderen die Schuld geben.
3. Unsere eigenen Gefühle und Bedürfnisse wahrnehmen.
4. Die Gefühle und Bedürfnisse des anderen wahrnehmen.
Ich traf meine Wahl – die sich in dieser Situation als hilfreich herausstellte – und brachte sie nicht so sehr durch Worte zum Ausdruck, sondern durch das, was ich tat. Anstatt ihn als Lügner zu verurteilen, versuchte ich sein
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