Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens (German Edition)
Gefühl herauszuhören: Er hatte Angst und sein Bedürfnis war, sich gegen Strafe zu schützen. Indem ich mich auf ihn einstimmte, hatte ich die Chance, einen emotionalen Kontakt herzustellen, aus dem heraus wir beide unsere Bedürfnisse zufriedenstellen konnten. Wenn ich jedoch mit der Auffassung, daß er log, auf ihn zugegangen wäre – auch wenn ich es nicht laut gesagt hätte – dann hätte er sich wahrscheinlich nicht sicher genug gefühlt, um ehrlich zu sagen, was vorgefallen war. Ich wäre dann Teil dieses Prozesses geworden: Dadurch, daß ich eine andere Person als Lügner verurteile, trage ich zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung bei: Warum sollte jemand die Wahrheit sagen wollen, wenn er weiß, daß er dafür verurteilt und bestraft wird?
Urteile über andere tragen zu selbsterfüllenden Prophezeiungen bei.
Ich möchte zu bedenken geben, daß sich sehr wenige Menschen für unsere Bedürfnisse interessieren werden, wenn unser Kopf voll ist mit Urteilen und Analysen darüber, daß die anderen schlecht sind, gierig, unverantwortlich, unehrlich, betrügerisch, daß sie die Umwelt verschmutzen, weil ihnen der Profit wichtiger ist als das Leben, und daß sie sich überhaupt anders verhalten, als sie das tun sollten. Wenn wir die Umwelt schützen wollen, und wir gehen zu einem Geschäftsführer mit der Einstellung: „Wissen Sie was? Sie sind der Mörder dieses Planeten, und Sie haben kein Recht, das Land so zu mißbrauchen“, dann haben wir unsere Chancen auf Bedürfniserfüllung erheblich verringert. Es gibt nur wenige Menschen, die mit ihrer Aufmerksamkeit auch dann bei unseren Bedürfnissen bleiben können, wenn wir sie auf dem Umweg über Vorwürfe an diese Menschen ausdrücken. Wir können natürlich in gewisser Weise mit Vorwürfen Erfolg haben, wenn wir sie als Einschüchterungsstrategie einsetzen, damit andere Leute unsere Bedürfnisse erfüllen. Wenn jemand sich so schuldig, beschämt oder verängstigt fühlt, daß er sein Verhalten ändert, dann läßt uns das vielleicht glauben, daß es möglich ist zu „gewinnen“, indem wir anderen erklären, was mit ihnen nicht stimmt.
In einer erweiterten Sichtweise realisieren wir jedoch, daß wir letztendlich nicht nur jedesmal verlieren, wenn sich unsere Bedürfnisse auf diese Weise erfüllen, sondern daß wir auch auf ganz handfeste Weise zur Gewalt auf diesem Planeten beitragen. Wir mögen ein kurzfristiges Problem gelöst haben – haben aber dafür ein neues geschaffen. Je öfter Menschen Vorwürfe und Verurteilungen hören, desto defensiver und aggressiver werden sie und desto weniger werden sie sich in Zukunft um unsere Bedürfnisse kümmern. Selbst wenn also unser aktuelles Bedürfnis zufriedengestellt ist in dem Sinn, daß jemand das tut, was wir wollen, dann werden wir später dafür bezahlen.
Vier Schritte, um Ärger auszudrücken
Die Schritte, um Ärger auszudrücken:
1. Innehalten. Atmen.
2. Unsere verurteilenden Gedanken identifizieren.
3. Kontakt mit unseren Bedürfnissen herstellen.
4. Unsere Gefühle und unerfüllten Bedürfnisse aussprechen.
Schauen wir uns einmal an, was wir für den Prozeß, unseren Ärger vollständig auszudrücken, ganz konkret tun müssen. Der erste Schritt ist innehalten und nichts tun außer atmen. Wir halten uns von jeglicher Regung zurück, den anderen zu beschuldigen oder zu bestrafen. Wir bleiben einfach still. Dann finden wir heraus, welche Gedanken uns wütend machen. Wir hören z.B. innerlich noch einmal eine Bemerkung, die uns zu dem Glauben geführt hat, daß wir z.B. wegen unserer Nationalität von einem Gespräch ausgeschlossen worden sind. Wir nehmen unseren Ärger wahr, halten inne und erkennen die Gedanken, die in unserem Kopf herumschwirren: „Es ist unfair, sich so zu verhalten. Das ist ausländerfeindlich.“ Wir wissen jetzt, daß solche Urteile tragischer Ausdruck unerfüllter Bedürfnisse sind, und gehen also einen Schritt weiter, indem wir Kontakt aufnehmen mit den Bedürfnissen hinter diesen Gedanken. Wenn ich jemanden als ausländerfeindlich verurteile, dann ist mein Bedürfnis vielleicht Zugehörigkeit, Gleichstellung, Respekt oder Verbundenheit.
Um uns vollständig zu artikulieren, machen wir jetzt den Mund auf und sprechen unseren Ärger aus – der jedoch in Bedürfnisse und die dazugehörigen Gefühle umgewandelt worden ist. Es kann sehr viel Mut erfordern, diese Gefühle auszusprechen. Es fällt mir leicht, mich über jemanden zu ärgern und zu sagen: „Was du da
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