Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens (German Edition)
gegenseitigen Einvernehmen zustimmen, daß sie sich nicht einigen können. Doch in manchen Fällen ist ein solcher Dialog nicht möglich. Dann kann sich die Ausübung von Macht als notwendig erweisen, um Leben zu schützen oder auch für die Rechte Einzelner einzutreten. Es kann zum Beispiel vorkommen, daß eine Seite nicht bereit ist zu kommunizieren oder daß wegen einer drohenden Gefahr für ein Gespräch keine Zeit mehr ist. In solchen Situationen kann es sinnvoll sein, Macht auszuüben. Wenn wir diese Wahl getroffen haben, legt uns die GFK nahe, zwischen beschützender und bestrafender Anwendung von Macht zu unterscheiden.
Die Einstellung hinter der Machtanwendung
Zwei Arten der Macht: beschützend und bestrafend.
Die beschützende Anwendung von Macht hat zum Ziel, Verletzung oder Ungerechtigkeit zu verhindern. Die Absicht der bestrafenden Machtausübung ist es, Menschen für ihre scheinbaren Missetaten leiden zu lassen. Wenn wir ein Kind, das gerade auf die Straße rennt, zurückhalten, weil wir es vor Verletzungen schützen wollen, wenden wir beschützende Macht an. Zur bestrafenden Machtausübung hingegen gehört oft ein körperlicher oder seelischer Angriff, wie z.B. dem Kind eine Tracht Prügel zu geben oder es zu tadeln: „Wie konntest du nur so dumm sein! Du solltest dich schämen!“
Wenn wir Macht als Schutz einsetzen, richten wir unsere Aufmerksamkeit auf das Leben oder die Rechte, die wir schützen wollen, ohne über eine Person oder ihr Verhalten ein Urteil abzugeben. Weder beschuldigen noch verurteilen wir das Kind, das auf die Straße läuft; unsere Gedanken richten sich einzig und allein auf den Schutz des Kindes vor Gefahr. (Wie diese Art der Macht in sozialen und politischen Konflikten ausgeübt werden kann, lesen Sie in Robert Irwins Buch „Nonviolent Social Defense“.) Die beschützende Machtanwendung geht davon aus, daß Leute aus Unwissenheit selbstverletzend handeln können. Das korrigierende Eingreifen hat daher einen bildenden Charakter und keinen bestrafenden. Zu dieser Unwissenheit gehören a) ein Mangel an Bewußtheit über die Konsequenzen unserer Handlungen, b) Unwissen darüber, wie wir unsere Bedürfnisse zufriedenstellen können, ohne andere dabei zu verletzen, c) der Glaube, wir hätten das „Recht“, andere zu bestrafen oder ihnen weh zu tun, weil sie es „verdienen“, und d) Wahnvorstellungen, wie z.B. eine Stimme „hören“, die uns befiehlt, jemanden umzubringen.
Das Ziel der beschützenden Anwendung von Macht ist einzig zu schützen – weder zu bestrafen noch zu beschuldigen oder zu verurteilen.
Strafaktionen basieren dagegen auf dem Gedankenmuster, daß Menschen Straftaten begehen, weil sie schlecht oder böse sind, und um das zu ändern, muß man sie zur Reue bewegen. Ihre „Besserung“ wird durch Strafaktionen angestrebt, mittels derer man sie erst so lange leiden läßt, bis sie die Verfehlung ihres Tuns erkennen, damit sie daraufhin bereuen und sich verändern. In der Praxis jedoch führt eine Strafaktion mit großer Wahrscheinlichkeit zu Abwehr und Feindseligkeit und zu einer Verstärkung des Widerstands gerade gegen das Verhalten, das wir als wünschenswert ansehen.
Verschiedene Arten bestrafender Macht
Körperliche Bestrafung wie Schlagen ist eine der Möglichkeiten strafender Machtausübung. Ich habe festgestellt, daß das Thema körperliche Züchtigung starke Gefühle bei Eltern hervorruft. Manche verteidigen diese Praxis hartnäckig und berufen sich dabei auch auf die Bibel: „Sparst du an der Peitsche, verdirbst du das Kind.“ Weil Eltern ihren Kindern nicht mehr den Hintern versohlen, ufert die Kriminalität völlig aus. Diese Eltern sind überzeugt, daß eine Tracht Prügel ihre Liebe zu den Kindern demonstriert, weil sie ihnen damit klare Grenzen setzen. Andere Eltern wiederum bestehen darauf, daß Schlagen lieblos und unwirksam ist, weil es die Kinder lehrt, daß sie immer auf körperliche Gewalt zurückgreifen können, wenn etwas anderes nicht funktioniert.
Angst vor Schlägen hindert Kinder daran, das Mitgefühl, das den elterlichen Anweisungen zugrunde liegt, wahrzunehmen.
Ich persönlich habe Bedenken, daß die Angst der Kinder vor körperlicher Strafe sie nicht erkennen läßt, daß Mitgefühl den Anweisungen der Eltern zugrunde liegt. Ich höre oft von Eltern, daß sie bestrafende Macht einsetzen „müssen“, weil sie keine andere Möglichkeit sehen, ihre Kinder dazu zu bringen, das zu tun „was gut ist für sie“. Sie
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