Gewitter der Liebe
schätze, dafür werden sich Lösungen finden. Und wenn es dir an Geld mangelt, einen eigenen Laden zu eröffnen, können Nathan und ich dir unter die Arme greifen, zum Beispiel für eine dieser neuartigen Nähmaschinen, die es auch in der New Yorker Fabrik gab.«
Bisher hatte Julia diesen Gedanken immer als undurchführbar gesehen, aber Lillys Begeisterung steckte sie an.
»Du musst dir etwas Eigenes aufbauen«, beschwor Lilly sie. »Denk daran, dass du nun allein für Joseph verantwortlich bist. Für Nathan zu arbeiten, ist natürlich nicht zu verachten, aber willst du ihm denn immer auf der Tasche liegen und unter seinem Dach leben, weil du dir kein eigenes Haus leisten kannst?«
Nein, das wollte Julia nicht, der gute Nathan hatte schon genug für sie getan.
16
Weihnachten 1851 feierten sie gemeinsam in Nathans festlich geschmücktem Haus. Über Ross wurde nicht geredet, da es nichts mehr über ihn zu reden gab. Julia versuchte, ihn zu vergessen und zwang sich dazu, nur noch an die Zukunft zu denken, was ihr allerdings sehr schwerfiel. Nach wie vor lebte sie in der Vergangenheit, glaubte noch immer, Ross’ heiße Lippen auf ihrer Haut zu spüren und seine Liebesbeschwörungen zu hören.
Zu dritt saßen sie beim Weihnachtspunsch in Nathans Wohnzimmer und versuchten, eine festliche Stimmung zu erzeugen.
Julia war schon den ganzen Tag aufgefallen, dass Nathan fahrig und nervös gewesen war, und nun sollte sie den Grund dafür erfahren.
»Ich habe viel nachgedacht«, sagte er unvermittelt und lockerte seinen Hemdkragen, als wäre er ihm plötzlich zu eng geworden. Er suchte Julias Blick. »Wie dir zumute sein muss, kann ich nachvollziehen. Aber du musst an den Jungen denken, der einen Vater braucht. Und deshalb …« Er druckste herum, »… und deshalb habe ich mir überlegt, dir … einen Heiratsantrag zu machen.«
Es war so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Lilly starrte ihn überrascht an, Julia hingegen ungläubig.
»Mir ist klar, dass ich Ross nicht ersetzen kann, und das will ich auch gar nicht. Aber wenn wir heiraten würden, würden du mit Joseph in geordneten Verhältnissen leben. Was meinst du dazu?«
Julia trank hastig einen großen Schluck Punsch, dann sagte sie: »Also, das kommt etwas plötzlich … ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«
Auch Lilly hatte ihre Fassung zurückgewonnen. »Das ist eine selbstlose Geste von dir, Nathan. Ich bewundere dich, dass du es Julia ermöglichen willst, das Leben als versorgte Ehefrau zu führen.«
Natürlich konnte sie nicht ahnen, dass er Julia schon seit Jahren liebte – und es durfte auch niemand erfahren. Nächtelang hatte Nathan wachgelegen und sich gefragt, ob Julia sein Angebot annehmen würde. Unauffällig beobachtete er sie nun; sie war blass geworden und sehr still.
»Ich verspreche dir, niemals mein eheliches Recht einzufordern«, sagte er mit spröder Stimme. »Ich möchte nur das tun, was Ross längst hätte tun sollen.«
Sie blickte auf. »Gibst du mir eine Bedenkzeit?«
»So lange du magst. Julia, ich weiß, dass du einen anderen Mann liebst und mir nur freundschaftliche Gefühle entgegenbringen kannst, aber damit gebe ich mich zufrieden. Der Junge soll meinen Namen tragen und später mein Vermögen erben.« Nathan stand auf. »Mir ist klar, dass ich ein Krüppel bin und nicht mit einem gesunden Mann konkurrieren kann, doch das sollte in deiner Situation zweitrangig sein. Denk darüber nach – und über deinen Schneidersalon können wir später noch reden.« Er war von dieser Idee genauso angetan gewesen wie Lilly. »Ich gehe jetzt zu Bett. Gute Nacht, die Damen.«
Zerstreut erwiderte Julia seinen Nachtgruß, dann war sie mit Lilly allein.
»Das war ja eine schöne Weihnachtsüberraschung«, sagte Lilly leise. »Wenn du schlau bist, nimmst du Nathans Angebot an.«
»Aber ich liebe ihn nicht!«
»Na und? Die Hälfte aller Frauen lieben ihre Männer nicht, sondern heiraten, damit sie versorgt sind. Schlag dir Ross aus dem Kopf, er war ein Taugenichts und hat dich im Stich gelassen. Auf Nathan hingegen kannst du dich verlassen, und wie er mit Joseph umgeht – also, ein leiblicher Vater könnte nicht liebevoller sein.«
Julia musste ihr Recht geben. »Ross hat sich nicht viel aus dem Jungen gemacht; manchmal hatte ich sogar den Eindruck, seine Anwesenheit wäre ihm lästig. Ich glaube … wenn ich eine Fehlgeburt gehabt hätte, hätte es ihn wohl kaum gestört.«
»Siehst du, Ross hätte dich auf
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