Gewitter der Liebe
inzwischen war genau ein Jahr vergangen, dass er Kalifornien verlassen hatte – genau drei Jahre nach seiner Ankunft.
Unbewusst hatte sich Julia angewöhnt, Nathan heimlich zu beobachten, und allmählich glaubte sie Lillys Ausführungen: Er schien sie wirklich zu lieben! Und dabei kam sie sich so schäbig vor; ihr wäre es lieber gewesen, sie wäre für ihn nichts anderes als eine Schwester, für die er sorgte.
Er war immer gleichbleibend freundlich, beschwerte sich nie, weil Julia seine Nähe nicht ertrug. Zu wissen, wie viel sie ihm bedeutete, machte ihr das Leben schwer.
Nachdem das Grundstück nun verkauft worden war, drängte Nathan sie, ein Geschäft zu kaufen oder zu mieten, obwohl mehr denn je in seinem eigenen Laden zu tun war. Und das sagte sie ihm auch.
»Ich kann jederzeit weiteres Personal einstellen«, wehrte er ab. »Nun hast du die Gelegenheit, dein eigenes Geschäft zu gründen – du hast die Fertigkeiten erlernt und Geld genug. Was also hält dich davon ab?«
Sie wusste es selbst nicht genau, doch sie blieb trotz Lillys aufbauender Worte unsicher. »Vielleicht habe ich einfach nur ein schlechtes Gewissen, dich mit deinem Geschäft im Stich zu lassen.«
»Das ist doch Blödsinn. Von Anfang an war mir bewusst, dass ich den Laden eines Tages vergrößern würde und dann mehr Arbeit auf mich zukommt, und ich will nicht, dass du aus Dankbarkeit, weil ich dich geheiratet habe, den Rest deines Lebens damit verbringst, in meinem Geschäft Schnürsenkel und Weckgläser zu verkaufen, wo ich doch gemerkt habe, wie viel Freude dir das Schneidern bereitet.«
Da hatte er nicht Unrecht, sie fand Erfüllung darin, mit feinen weichen Stoffen zu arbeiten und immer wieder neue Ideen auszuprobieren.
»Und wenn niemand bei mir Kundin werden will?«, fragte sie schüchtern, obwohl es eine törichte Frage war, denn bereits bei der Einweihung des Wild Cat war sie von mehreren weiblichen Gästen interessiert gefragt worden, wer denn ihr Schneider sei.
»Lilly wird schon dafür sorgen, dass du genug Kundschaft bekommst, denn sie wird nur noch deine Kreationen tragen und dafür Reklame machen. Du weißt ja, wo sie sich sehen lässt, fällt ihre Erscheinung auf und auch das, was sie trägt. Außerdem hast du in der Vergangenheit bewiesen, dass du die perfekte Geschäftsfrau bist.«
»Die Fertigkeiten habe ich von dir.« Sie beugte sich vor und legte ihm ein weiteres Stück Napfkuchen auf den Teller. Sie hatte ihn selbst gebacken, weil sie wusste, sie sehr Nathan ihn mochte.
»Jeder lernt etwas von jemand anderem«, erwiderte er geschmeichelt. »Aber ich freue mich, dass du es erwähnst.« Insgeheim freute er sich mehr, dass Julia immer seine Lieblingsspeisen auf den Tisch brachte, um seinen Gaumen zu verwöhnen.
Sie versprach ihm, es sich mit dem Modesalon zu überlegen, und dabei beließ er es. Er wollte sie nicht bedrängen, sie sollte aus freien Stücken entscheiden.
»Nächste Woche kommt das Schiff mit den Tischdecken und Küchengeräten«, sagte sie plötzlich. »Hoffentlich sind die Sachen so hübsch wie im Katalog. Schade, dass es immer so lange dauert, bis die Waren geliefert werden.«
»Sie auf dem Landwege zu befördern, würde Monate dauern. Aber eines Tages wird Kalifornien alles selbst produzieren, in der Fleischproduktion ist es schon jetzt unschlagbar.«
Aufgrund der zahlreichen Rinderzuchten im Land belieferte Kalifornien bereits einen großen Teil des Kontinents mit Fleisch.
»Wir könnten auch noch mehr Bauwerkzeuge anbieten«, fuhr sie mit Begeisterung fort. »Leute mit wenig Geld bauen sich ihre Häuser noch immer selbst und können alles gebrauchen. Platz genug wäre vorhanden. Was meinst du?«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Eines Tages soll es heißen: »Bei Nathan bekommt man wirklich alles.«
Vor Begeisterung klatschte Julia so laut in die Hände, dass Joseph erschrocken ein Stückchen Kuchen aus dem Mund fiel. »Das wäre doch ein großartiger Werbespruch!«
»Aber erst, wenn man bei uns wirklich alles bekommt«, erwiderte er schmunzelnd und freute sich über Julias Euphorie.
17
Josephs zweiter Geburtstag im Januar 1853 wurde groß gefeiert. Er strahlte mit den Kerzen auf seinem Geburtstagskuchen um die Wette und genoss die allgemeine Aufmerksamkeit seiner Familie – für ihn gehörten Nathan, Lilly und Mrs Garland genauso dazu wie seine Mutter.
Trotz seiner Behinderung tobte Nathan den ganzen Nachmittag mit dem Jungen, der sein neues Steckenpferd ausprobierte, um
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