Gewitter der Liebe
das Gästezimmer, doch ihr Sohn war in sein eigenes Kinderzimmer gegenüber gezogen. Er war jetzt alt genug, um allein schlafen zu können, und anfangs fehlten Julia die vertrauten nächtlichen Geräusche, die Joseph im Schlaf von sich gab.
Sie war nun fachlich bereit, einen eigenen Modesalon zu eröffnen, dennoch scheute sie sich davor, denn sie fürchtete, nicht das Gefühl für Geschäftsdinge zu haben wie Nathan und Lilly es hatten.
»Du traust dir einfach zu wenig zu«, sagte Lilly. »Und dabei bist du viel stärker als ich.«
Überrascht fuhren Julias Augenbrauen in die Höhe. »Wie kommst du nur darauf?«
»Du hast die Reise durch die Sierra Nevada fast klaglos durchgehalten, während ich aufgeben wollte. Und als Nathans Bein amputiert werden musste, warst du freiwillig dabei, während ich mich verkrochen habe.«
»Aber …«
»Kein Aber. Außerdem hast du dich und den Kleinen eigenständig mit Näharbeiten über Wasser gehalten, während der treulose Ross sich lieber auf den Goldfeldern tummelte.« Lilly sah, dass Julia blass wurde, und entschuldigte sich kleinlaut. »Verzeihung, dass ich dich wieder an ihn erinnert habe.«
»Ich denke auch so noch viel zu oft an ihn«, gestand Julia. »Ich kann nichts dagegen tun. Im September ist es ein Jahr her, dass er sich aus dem Staub gemacht hat, wenn Josh sich nicht im Monat geirrt hat.«
Lilly nahm ihre Hand und sagte eindringlich: »Du musst dir diesen Kerl endlich aus dem Kopf schlagen, sonst kannst du nie wieder glücklich sein. Oder glaubst du, er kommt eines Tages zurück?«
»Natürlich nicht, aber ich hoffte eine ganze Weile, dass er mir wenigstens schreiben und erklären würde, wieso er heimlich gegangen ist.«
»Das kann ich dir auch beantworten: Weil er ein verantwortungsloser Halunke ist – nicht viel besser als Bill. Nur gut, dass der seine gerechte Strafe bekommen hat; Ross hingegen wird leider immer wieder auf seinen eigenen Füßen landen und die Frauen ausnutzen und belügen.«
»Wahrscheinlich hast du recht.«
»Nicht nur wahrscheinlich, sondern ganz gewiss«, beharrte Lilly. »Ich kenne mich mit dieser Art von Männern inzwischen aus. Hätte ich damals während des Trecks schon so viel Menschenkenntnis besessen wie heute, hätte ich alles daran gesetzt, dass Ross dir nicht zu nahe tritt. Sieh dir Nathan an, er ist der richtige Mann für dich, auch wenn du es noch nicht wahrhaben willst. Er ist so, wie eine Frau wie du sich ihren Mann wünscht: Er trinkt nicht, er spielt nicht und er interessiert sich nicht für anderen Frauen. Außerdem ist er ein fürsorglicher Ehemann und liebevoller Vater – all diese Eigenschaften hat Ross nie besessen, auch wenn du es nicht wahrhaben willst.«
Julia wusste, dass ihre Freundin mit jedem Wort recht hatte, doch da war ihre Liebe zu Ross, die sie nicht einfach ausschalten konnte. Um Lilly vom Thema abzulenken, erkundigte sie sich nach dem Klavierspieler Ted, und diese errötete prompt verlegen.
»Er macht sich gut, außerordentlich gut. Viele Leute kommen allabendlich, nur um ihn zu hören, denn dass er ein begnadeter Klavierspieler ist, hat sich in San Francisco bereits herumgesprochen. Stell dir vor, vor einigen Tagen versuchte der Besitzer des neuen Revuetheaters sogar, ihn mir abzuwerben! Aber Ted hat sogleich abgelehnt.«
Julia war eigentlich eher an privaten Einzelheiten interessiert und sagte mit beiläufigem Unterton: »Ich habe euch beide gestern zusammen auf der anderen Straßenseite gesehen.«
»Ach das«, kam es gedehnt zurück. »Wir wollten beide Einkäufe erledigen und hatten zufällig denselben Weg. Er ist ein netter Begleiter, findest du nicht?«
Julia unterdrückte ein Lächeln. Die Art, wie sich Lilly und Ted unterhalten hatten, hatte sehr vertraut gewirkt, das konnte man von Nathans Schaufenster aus gut beobachten. Doch sie entschloss sich, nicht weiterzubohren, um die Freundin nicht in Verlegenheit zu bringen. Wenigstens war eine von ihnen glücklich verliebt …
Sie vergrub sich in ihrer Arbeit, wälzte Firmenkataloge, um Nathan Vorschläge für neue Warengruppen zu machen. Nachdem die letzten Goldgräberwerkzeuge in den Keller verfrachtete wurden, weil sie nur noch Ladenhüter waren und unnötig Platz im Geschäft einnahmen, war es an der Zeit, das Warenangebot zu erweitern.
Dankbar nahm Nathan jeden Vorschlag auf, sodass ein kleines Warenhaus entstand. Er konnte nicht ahnen, dass Julia plötzlich so aktiv war, um keine Zeit mehr zu haben, über Ross nachzudenken, denn
Weitere Kostenlose Bücher