Gewitter über Emilienlund: Mittsommerglück (German Edition)
und ging zur Tür. Als sie im Vorzimmer verschwunden war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, fuhr Grey sich mit der Hand übers Gesicht. Seufzend lehnte er sich in seinem Bürosessel zurück. Mit gelinder Verärgerung bemerkte er, dass seine Finger leicht zitterten. Reiß dich gefälligst zusammen, ermahnte er sich selbst. Dummerweise nutzte das nicht viel. Es war beinahe beängstigend, wie stark sein Körper auf Annies Gegenwart reagierte. Und das ganz und gar gegen seinen Willen.
“Jetzt ist es schon Nachmittag, und Sie sitzen seit heute Morgen ununterbrochen im Büro. Ich wusste gar nicht, dass Grey so ein Schinder ist. Haben Sie überhaupt schon etwas gegessen?”
Überrascht blickte Annie von den Unterlagen auf, an denen sie gerade arbeitete. Sie las sich in die Bergström-Angelegenheit ein und war so konzentriert gewesen, dass sie Henrik Ljundberg nicht hatte kommen hören. “Es ist meine eigene Schuld”, erwiderte sie lächelnd. Erst jetzt, wo er sie daran erinnert hatte, verspürte sie ein leicht flaues Gefühl im Magen. “Aber Sie haben recht, ich sollte wohl tatsächlich einen Happen zu mir nehmen.”
“Na, das will ich aber meinen”, sagte der blonde Schwede und erwiderte ihr Lächeln jungenhaft. “Sie wissen doch sicher, dass wir Männer frauliche Rundungen viel lieber mögen als abgemagerte Hungerhaken, oder nicht?”
Annies Lächeln schwand. Nein, Männer und ihre Vorlieben waren nun wirklich nicht ihr bevorzugtes Thema. Früh genug in ihrem Leben hatte sie feststellen müssen, dass sie nicht zu der Sorte Frau gehörte, die beim anderen Geschlecht großen Eindruck hinterließ. Eigentlich hatte sie gedacht, darüber inzwischen hinweg zu sein. Es gab wichtigere Eigenschaften als körperliche Attraktivität. Intelligenz beispielsweise. Güte und Hilfsbereitschaft. Dennoch wirkte Henriks scherzhafter Kommentar auf sie wie ein Dämpfer.
Offensichtlich war sie nicht besonders gut darin, ihre Gefühle zu unterdrücken, denn sie spürte den forschenden Blick des älteren Schweden auf sich ruhen. Erstaunlicherweise war ihr das nicht einmal besonders unangenehm. Henrik Ljundberg schien ein durch und durch freundlicher Mensch zu sein. Annie hatte fast das Gefühl, als sei er ein wenig um sie besorgt, was natürlich unsinnig war, da sie sich ja im Grunde überhaupt nicht kannten.
“Was meinen Sie”, sagte er plötzlich. In seinen Augen lag ein verschmitztes Glitzern, das Annie irritierte. “Grey und ich hatten vor, gleich in den Ort zu fahren, um einige Dinge zu besorgen und zu Abend zu essen. Kommen Sie doch einfach mit!”
“Ich weiß nicht”, antwortete Annie ausweichend. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, mehr Zeit als unbedingt nötig mit Grey zu verbringen. “Um ehrlich zu sein, ich halte das für keine besonders gute Idee.”
“Ach was, Kindchen.” Henrik Ljundberg trat um den Schreibtisch herum und legte ihr eine seiner gewaltigen, prankenartigen Hände auf die Schultern. “Was Sie brauchen, ist ein wenig Entspannung. Sie machen sich doch nicht etwa Sorgen, dass Grey etwas dagegen haben könnte? Da machen Sie sich mal gar keine Gedanken, ich …”
“Wogegen soll ich etwas haben?” Weder Annie noch Henrik hatten bemerkt, dass Grey aus seinem Büro getreten war. Jetzt stand er im Türrahmen und beäugte die beiden mit zusammengezogener Stirn. “Was ist hier eigentlich los?”
“Gar nichts. Ich versuche lediglich, Miss Fielding zu überreden, mit uns zu essen, mehr nicht.”
Grey maß Henrik mit einem verärgerten Blick, der einen wütenden Bullen in die Flucht gejagt hätte. Auf den stämmigen Schweden jedoch schien er keinerlei Eindruck zu hinterlassen. Ganz im Gegenteil sogar.
“Nicht wahr, Annie? Sie werden uns doch den Gefallen tun, uns zu begleiten, oder?”
Annie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Betreten blickte sie zu Boden. Genau eine solche Situation hatte sie vermeiden wollen. Nach dem, was zwischen ihr und Grey vorgefallen war, hatte sie alles daransetzen wollen, ihn davon zu überzeugen, dass sie ausschließlich an einer professionellen Beziehung zu ihm interessiert war – was ja auch der Wahrheit entsprach. Aber jetzt hatte sie sich von Henrik Ljundberg in eine Zwickmühle manövrieren lassen, aus der sie keinen Ausweg wusste. Da es sehr unhöflich gewesen wäre, das freundliche Angebot des Schweden zu ignorieren, nickte sie schließlich schicksalergeben. “Wenn Sie meinen.”
“Natürlich meine ich das, mein Mädchen”, entgegnete
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