Gewitter über Emilienlund: Mittsommerglück (German Edition)
nur ein kleine Leselampe spendete etwas Licht.
Eigentlich hatte sie bereits seit Stunden Feierabend. Doch wenn sie ehrlich war, reizte sie die Vorstellung, mutterseelenallein auf ihrem Zimmer zu sitzen und die Decke anzustarren, nicht sonderlich. Außerdem war Grey ebenfalls noch im Büro, und sie wollte ihm auch nicht die geringste Gelegenheit geben, sich über sie zu beschweren.
Im Augenblick schien er jedenfalls stets auf der Suche nach Angriffspunkten zu sein. An allem, was Annie tat, hatte er etwas auszusetzen – egal, ob sie einen Fehler gemacht hatte oder nicht. Inzwischen war es sogar schon so weit, dass sie vor lauter Furcht, ihm einen Grund zur Klage zu liefern, so nervös war, dass sie sich kaum noch konzentrieren konnte.
Wenn das so weiterging, würde Grey sie bald nach Hause schicken. Annie schauderte. Allein der Gedanke, nach London zurückkehren zu müssen, verursachte ihr eine Gänsehaut. Natürlich, ihr Leben hier in Schweden hatte sich nicht so entwickelt, wie sie es sich erhofft hatte. Doch es war immer noch besser als alles, was in England auf sie wartete. Reiß dich zusammen, schalt sie sich streng. Denn wenn du es nicht tust, sitzt du ganz schnell wieder im Flugzeug nach Hause.
Als das Telefon zu klingeln begann, war Annie im ersten Moment irritiert. Normalerweise rief so spät am Abend niemand mehr im Büro an. Vielleicht Henrik? Ihre Stimmung hellte sich ein wenig auf. Der blonde Schwede war augenblicklich so ziemlich der einzige Mensch, mit dem sie reden konnte. Er hörte ihr zu und brachte stets Verständnis für sie auf. Obwohl sie ihn erst seit so kurzer Zeit kannte, hatte sich zwischen ihnen bereits eine Art Freundschaft entwickelt. Von ihm hatte sie auch erfahren, dass ihre schlimmsten Befürchtungen tatsächlich der Wahrheit entsprachen. Mark Cardassian besaß Informationen über den Deal mit Olaf Bergström, und nach allem, was vorgefallen war, würde er sein Wissen ganz sicher nutzen, um Grey und O’Brannagh Industries zu schaden.
Sie nahm den Hörer ab und meldete sich. Am anderen Ende der Leitung war ein leises Schluchzen zu vernehmen – es war demnach ganz sicher nicht Henrik.
“Wer ist denn da?”
“A. J.? Bist du das?”
Verblüfft hob Annie eine Braue. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, seit sie diesen Spitznamen zum letzten Mal gehört hatte. Doch die Stimme klang völlig verweint, und es gelang ihr im ersten Moment nicht, sie zuzuordnen. “Ja, ich bin am Apparat. Wer ist denn da?”
“Stephanie, deine kleine Schwester. Hast du mich so schnell vergessen?”
“Steph? Jetzt beruhige dich mal. Natürlich habe ich dich nicht vergessen. Was ist denn los? Warum weinst du?”
“A. J., du musst nach Hause kommen. Sofort.”
Schlagartig versteifte Annie sich. “Nach Hause? Hör mal Steph, das geht nicht. Ich habe hier einen Job! Ich kann nicht einfach verschwinden. Jetzt erzähl mir erst einmal, was überhaupt passiert ist, okay?”
Es dauerte eine Weile, aber schließlich gelang Annie, ihrer schluchzenden Schwester zu entlocken, dass ihr Freund, mit dem sie seit knapp zwei Jahren zusammen gewesen war, sie verlassen hatte.
“Hör mal, Kleines, ich kann verstehen, dass das ein ganz furchtbares Erlebnis für dich sein muss – aber ich kann jetzt nicht nach Hause kommen, verstehst du?”
“Aber A. J.!” Sofort begann ihre Schwester wieder hysterisch zu weinen. “Ich brauche dich! Du kannst mich doch nicht einfach so im Stich lassen!”
Annie stöhnte unterdrückt. Natürlich hatte sie Mitleid mit Stephanie. Immerhin war sie ihre Schwester, und sie liebte sie – selbst wenn sie in den letzten Jahren nicht immer besonders gut miteinander ausgekommen waren. Doch eines würde sie ganz sicher nicht tun: nach London zurückkehren, um Stephanies Händchen zu halten.
“Schwesterherz, du bist fast zwanzig. Glaubst du nicht, du bist langsam alt genug, um selbst Verantwortung zu übernehmen? Ich meine, ich war mehr als sechs Jahre Tag für Tag für dich da. Ich denke, es ist langsam wirklich an der Zeit, dass ich mich um mein eigenes Leben kümmere. Und du dich um deins.”
Sie hörte, wie ihre Schwester am anderen Ende der Leitung scharf einatmete. “Soll das heißen, du kommst nicht?”
Noch einen kurzen Moment zögerte Annie, dann sagte sie: “Genau das soll es heißen. Steph, du kannst nicht von mir verlangen, dass ich hier alle Brücken hinter mir abbreche, bloß weil du eine Schulter zum Ausweinen brauchst. Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du meinen
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