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Gewitter über Pluto: Roman

Gewitter über Pluto: Roman

Titel: Gewitter über Pluto: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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hat
nicht nur eine
    Ursache, sondern auch einen Grund? D.h. ungefähr:
    er läßt sich in das richtige Wissen des Irrenden
einordnen.
    Â 
    (Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit )

19  |  Rosa Periode
    37,5°C.
    Ich hasse es, krank zu sein. Man könnte natürlich meinen, diese
winzige Kaskade erhöhter Temperatur eigne sich schwerlich, gleich von einer
Erkrankung zu sprechen. Aber bereits ein paar Grad über dem »Erlaubten«
beschert mir ein Gefühl höchster Schwächung. Von Gebrochenheit und Hinfälligkeit.
Ein Gefühl des Todes. Ja, wenn man stirbt, so meine Vorstellung, wird man
eigentlich nicht kalt, wie immer gesagt wird, sondern treibt vielmehr auf einer
einzigen ansteigenden Fieberwelle, in einer kreiselnden Bewegung fortgesetzter
Erhitzung ins Jenseits. Was immer dort warten mag. Die diesbezüglichen
Vorstellungen sind auf X nicht viel einfallsreicher als auf der Erde. Dabei
glaube ich gerne, daß es etwas gibt. Leider glaube ich genauso, daß man dort,
wo man hingelangt, nicht direkt willkommen ist. Daß man in das Jenseits wie in
ein fremdes Land gerät, in dem man eher stört. Ja, möglicherweise bedeutet das
Jenseits für jeden von uns, zum ewigen Ausländer zu werden.
    Maritta war gerade nach Hause gekommen. »Was bedrückt dich?« fragte
sie. Als die Ärztin, die sie war, war sie selbstverständlich auch Spezialistin
für Fieber oder auch nur halbes Fieber. Wenngleich keine Spezialistin für
eingebildetes Fieber.
    Ich sagte ihr, daß es mir schlecht gehe. Daß ich Fieber habe. Doch
über die Höhe kein Wort.
    Sie kam herüber, setzte sich auf die Lehne des Sofas, ließ sich ein
Stück seitwärts fallen, sodaß sie mit ihrem Oberarm sanft auf meiner Schulter
landete, und griff mir mit der freien Hand auf die Stirne.
    Â»Du bist nicht heiß, Liebling. Das kann nicht sehr hoch sein, dein
Fieber.«
    Â»Ich bin trotzdem deprimiert«, sagte ich.
    Â»Dann tun wir was dagegen. Willst du eine Tablette, Fernsehen oder
Sex?«
    Ich fand, Fernsehen wäre vielleicht das beste.
    Maritta wirkte keine Sekunde beleidigt, sondern griff nach der
Fernbedienung, preßte sich fest an mich und schaltete die Nachrichten an.
    Ich mag Nachrichten, auch wenn von Katastrophen und Elend und Regen
am Wochenende die Rede ist und die Äußerungen bedeutender Menschen wenig Anlaß
geben, sich keine Sorgen zu machen. Trotzdem, die
Nachrichten entspannen mich, sehr viel mehr, als wenn ich mir Filme ansehe und
mit den Helden mitleide und im eigenen Hirn Verwirrung darüber besteht, ob man
wirklich vor und nicht doch vielleicht im Fernseher sitzt, ebenfalls ein Gejagter oder Jäger,
ebenfalls ein Gehetzter, welcher unglaubliche Dinge zuwege bringen muß, für die
er – weder Schimpanse noch Fisch, noch Vogel – einfach nicht geschaffen ist.
Nein, die Nachrichten tun mir gut, machen mich ruhig. Und wenn man krank ist,
sollte man jede Aufregung meiden. Nicht zuletzt die Aufregung, die
Fernsehserien über Traumschiffe und Traumhotels und Traumstrände mit sich
bringen. Denn aufwühlender als jeder Thriller ist sicherlich die auf die Spitze
getriebene Peinlichkeit. Wenn alternde sogenannte Publikumsstars den Herbst des
Lebens zwischen Palmen oder Weinreben oder vor dem Hintergrund der Chinesischen
Mauer zerreden, dann tut das schlichtweg weh. Und macht einen Kranken ganz
sicher nicht gesund.
    Darum erhob ich mich nach den Nachrichten und quälte mich mit
schweren Gliedern die Treppe hoch ins Schlafzimmer, wo ich wie ein erlegtes
Wild ins Bett fiel. – Nein, ich bin kein Hypochonder.
    Am nächsten Tag war das Fieber weg. Eigentlich hätte man
von Untertemperatur sprechen müssen, aber ich wollte kein Theater machen.
Maritta mag eine verständnisvolle Ärztin sein, gleichwohl kann sie – gerade
morgens – auch ein wenig streng auftreten. Ich servierte uns also das
Frühstück, wie ich es immer tue, danach brachte ich Maritta mit dem Wagen in
die Stadt und fuhr hernach zur Universitätsbücherei, wo ich einen meiner
Autoren traf. Ich diskutierte mit ihm einen Essay über die veränderte
Darstellung des Trinkens von Alkohol seit den Sechzigerjahren, einen Essay, der
praktisch einen Bogen bildete zwischen dem fundamentalen und substantiellen
Alkoholismus eines Richard Burton und der eher als Parodie auf eine
Altherrenfrivolität gemünzten Promilleübertreibung heutiger

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