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Gewitter über Pluto: Roman

Gewitter über Pluto: Roman

Titel: Gewitter über Pluto: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Frage, meine Erregung
beweist, wie sehr ich an diesen Ort gebunden bin. Wie wichtig mir der Erhalt
eines kathedralisch würdevollen Bahnhofs ist, dessen Leben oder Sterben schon
im nächsten Bundesland kaum jemand kümmert. Aber hier ist mein Ort, und hier
ist meine Erregung. Hier sind– um es
mit dem »Bürgerblatt« zu sagen – mein Herz und mein Verstand. Während es mich
nicht richtig beschäftigt, ob die Leute auf X ihr verdammtes Vogelproblem in
den Griff bekommen oder nicht. Und darum ist es ja so tragisch, daß ich
verpflichtet bin, eine gewaltige Leere zu überwinden, um ein Stück Leinwand und
ein paar Vogelknochen an den Ort meiner Kindheit und Jugend zu befördern. Ja,
vielleicht rette ich auf diese Weise die Welt. Aber eben die falsche Welt. Eine
Welt ohne Maritta. Ohne das »Bürgerblatt«. Ohne Botnang. Anstatt hier zu
bleiben und…)
    Ich saß bereits im ICE nach Singen, als ich aus einem
kleinen, wilden Tagtraum erwachte, einem Tagtraum vom Aufbegehren braver
schwäbischer Kleinbürger, die sich an ihren Bahnhof anketten oder, noch besser,
dieselben Leute zum Teufel jagen, denen sie an der Wahlurne ihre Stimme gegeben
haben. Denn das muß, lieber Herr im Himmel, erlaubt sein, daß jemand seinen
Fehler einsieht und – falls der Fehler nicht von selbst weichen mag – die
nötigen Schritte unternimmt. Wäre das Terrorismus? Anarchie? Ein Krieg der
Städter in der Art eines Bauernkriegs? – Vom Standpunkt des »Bürgerblatts« wäre
es einfach nur ein kämpferischer Ausdruck »guter Laune«.
    Ich hatte die Kopfhörer oben und lauschte einer Hörspielfassung von
Lewis Carrolls Drogenroman Alice im Wunderland . Ich
kannte bisher bloß die Disney-Verfilmung, wobei ich mich vor allem an die
fette, famose, sich an die eigene Verrücktheit lustvoll anschmiegende
Tigerkatze erinnerte, deren mondsichelartiges Grinsen höchstwahrscheinlich das
berühmteste und bekannteste Grinsen auf dieser Erde ist. Ein verwandtes
Gegenstück zum Lächeln der Mona Lisa. Doch während das Lächeln der Mona Lisa
kaum ohne Mona Lisa denkbar ist, kommt das Grinsen der Tigerkatze auch ganz
ohne Tigerkatze aus. Vergleichbar den riesenhaft über den Himmel schwebenden
Lippen, die Man Ray gemalt hat. Aber die Rayschen Lippen sind nun mal deutlich
surreal, während das Grinsen der Tigerkatze vollkommen realistisch anmutet.
Niemand würde sich wundern, dieser Katze und diesem Grinsen eines Tages zu
begegnen. Und wer weiß, wie viele Leute eines solchen Phänomens bereits
sozusagen leibhaftig ansichtig wurden? Und nur darum schweigen, um nicht
ebenfalls als »so irre und so geistgestört« dazustehen? (Es erscheint übrigens
in der Tat als das verbindende Element in allen mir bekannten Welten, daß es
als ein Beweis von »Normalität« gilt, nicht über Dinge zu reden, die man
gesehen hat.)
    Aber es war etwas anderes, was mir nun – weil es wohl im Film auch
gar nicht zur Rede kommt – auffiel. Etwas, das in erstaunlicher Weise einigen
durchaus populären Weltmodellen entsprach, wie sie zu meiner Zeit auf X
diskutiert worden waren. Ich muß hier ein bißchen weiter ausholen. Es geht um
jene der Berühmtheit des Katzengrinsens kaum nachstehende Teegesellschaft, in
welcher ein Märzhase, ein Hutmacher und eine Haselmaus, all drei nicht minder
verrückt, ihren Nichtgeburtstag feiern. Im Gespräch zwischen der leicht
irritierten Alice und dem Hutmacher geht es um »Zeit«, nicht um die Zeit, sondern um den Zeit,
also um eine Person, mit der man sich gut stellen kann oder auch nicht. Leider
ist dieser gewisse Zeit wegen eines Streits mit dem Hutmacher nicht mehr
bereit, ihm auch nur eine einzige Bitte zu erfüllen. Sodaß es seither immerzu
sechs Uhr ist. Alice erkennt nun richtigerweise, daß genau darum das viele
Teegeschirr herumsteht. Denn im Zuge des Stillstehens von Zeit kommt die
dreiköpfige Teegesellschaft bloß noch zum Teetrinken, nicht aber zum Abspülen.
Man ist gezwungen, von einem Gedeck zum nächsten zu rücken, während die benutzten
Tassen und Kannen weder von Zauberhand noch von sonst einer Hand gereinigt
werden. Woraus sich für Alice die Frage ergibt, was denn geschieht, wenn die
Teegesellschaft wieder zum ersten Gedeck zurückkehrt. Gute Frage! Doch der
Märzhase unterbricht sie gähnend: »Laß uns von etwas anderem reden.« Womit

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