Gewitter über Pluto: Roman
er noch
einen Fossilientick. Doch es bedeutet nichts. Die Verbindungen, die Stränge
sind mutwillig. Alles ist erfunden.«
»Ja, aber wir leben dann in und mit dieser Erfindung. Und müssen begreifen, was den
Schöpfer dieser Erfindung antreibt.«
»Sie wollen den Typen verstehen?«
Stirling senkte ein wenig seinen Kopf und zerteilte das Weià seiner
Linzer Torte. »Ich frage mich«, sagte er, »ob es uns als Romanfiguren möglich
ist, den Autor und sein Schreiben zu beeinflussen. Denn wenn man sich schon
nicht aussuchen kann, ob man in einem guten oder schlechten Roman steckt, dann
vielleicht wenigstens, ob es ein gutes oder schlechtes Ende geben wird. Zudem
können wir der ganzen Geschichte einen Sinn verleihen. Einen Sinn, an den der
Autor gar nicht dachte. Er schreibt ja bloÃ, aber wir leben. Wir wollen nicht
ohne Sinn sein.«
»Das klingt für mich, als wollten Sie Zusammenhänge herstellen, wo
keine sind.«
»Was verlangen Sie?« fragte Stirling. »Ich bin Kriminalist. Ich lebe
von Zusammenhängen. Ich kann nicht vor die Leute hintreten und sagen, das alles
sei nur geschehen, weil jemand ein Faible für die äuÃeren Planeten hat. Und daÃ
wir alle an den Fäden reiner Willkür hängen. Nein, ich suche ein Motiv. Ich
suche es, weil ich daran glaube. In einer Welt ohne Motive hätte ein Polizist
keinen Platz.«
»Nichts gegen ein Motiv«, sagte Lorenz. »Ich meinte ja nur, daà der
Planet Pluto bei alldem keine wirkliche Rolle spielt. Er ist pure Zierde. Ein
sich wiederholendes Thema. Wie in einem Musikstück.«
»Ja, aber die Wiederholung hat eine Funktion«, erwiderte Stirling.
»Nicht nur eine ästhetische. Wir sollen an etwas erinnert werden. Das verbindet
Komponisten und Autoren mit Mördern. Dieses willentliche Auslegen von Spuren.«
»Eine Spur ergibt noch keinen Sinn«, fand Lorenz.
»Sie ist der Sinn. Sie führt uns zum
Täter. Sie führt uns zu den Umständen der Tat. Selbstredend gibt es Zufälle.
Gibt es Ãberlappungen, die nichts bedeuten. Aber ich bitte Sie, wie oft muà der
Name Pluto denn noch auftauchen?«
»Ihr Job sind die Spuren. Und meiner die Wolle.«
»Und das ist auch gut so«, bestätigte Stirling. »Ich wollte Sie
keineswegs dazu animieren, sich als Hobbykriminalist zu betätigen.«
Und so verspeisten sie ihre Tortenstücke, tranken Kaffee und Tee,
sprachen noch ein wenig â wie um eine männliche Normalität herzustellen â über
FuÃball und gingen schlieÃlich auseinander.
Keine Frage, vom Standpunkt eines der üblichen Polizisten hätte
Lorenz Mohn noch immer als Hauptverdächtiger gelten müssen. Er war von Nix
bedroht worden. Er liebte die Frau, mit der Nix verheiratet gewesen war. Er war
in einem Raum mit der Leiche gewesen, war im Blut herumgestapft und, und, und.
Aber erstens war Stirling keiner von den üblichen Polizisten, und zweitens
hatte der Mord an dem Bäcker und Paläontologen kaum mediale Wellen geschlagen.
Das war umso erstaunlicher, wenn man die Sexvergangenheit des involvierten
Lorenz Mohn bedachte. Doch entweder hatte die Presse von den Hintergründen
wirklich keine Ahnung, oder sie hielt sich zurück. Das konnte sie mindestens so
gut. Denn entgegen dem Klischee einer vorauspreschenden und jeden Schwachsinn
ausposaunenden Journaille bestand ihre eigentliche Fähigkeit darin, Dinge zu
verschweigen. Wer auch immer das jeweilige Schweigen anordnete. Jedenfalls
ergab sich aus selbigem Umstand ein geringerer Druck auf die Ermittler. Sie
muÃten nicht übereilt handeln und sich durch dramatische Auftritte in Szene setzen.
(Intern unterscheidet man bei der Polizei â wie man das sonst aus der Kunst
kennt â die Fälle in E und U. Das E steht für Verbrechen, für deren Aufklärung
man sich exakt jene Zeit nimmt, die schlichtweg vonnöten ist, um die Wahrheit
ans Tageslicht zu befördern. Bei U-Fällen hingegen geht es vor allem darum, der
Ãffentlichkeit eine glaubwürdige Lösung anzubieten und schnelle Verhaftungen
vorzunehmen, die mitunter zu ebenso schnellen Freilassungen führen. Aber das
macht nichts. Der U-Bereich lebt davon, ein Bild der Rasanz zu liefern, eine
Ãberlegenheit des Staates im Widerstreit mit dem Verbrechen, eine souveräne
Hektik, zu der eben auch die Freilassung von Verdächtigen gehört, denen man
nichts nachweisen kann
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