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Gewitter über Pluto: Roman

Gewitter über Pluto: Roman

Titel: Gewitter über Pluto: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Manche von uns müssen
wohl hier sterben.«
    Claire sagte kein Wort. Sie saß einfach nur da und wartete, bis ich
endlich den Raum verließ.
    Ich bin kein Unmensch. Ich machte ihr die Freude.

21  |  Wasser
    Manchmal besteht die ganze Enttäuschung darin, daß ein
Horror ausbleibt. Daß der Mord nicht geschieht, die Katastrophe vereitelt wird,
der Gefangene mit lachhafter Leichtigkeit sein tödliches Gefängnis sprengt. Und
die größte Enttäuschung ist natürlich eine Wirklichkeit, die nicht mal
ansatzweise an die Fiktion heranreicht. Das macht ja Figuren wie Donald Duck
oder besagte Cheshire-Katze so unsterblich, daß für sie keine Entsprechung im
realen Leben existiert, kein elendes Spiegelbild. Entenhausen gibt es Gott sei
Dank nicht wirklich, »Gott sei Dank« nicht für uns, sondern »Gott sei Dank« für
Entenhausen.
    So mirakulös und bedrohlich und herrschaftlich Kubricks
Overlook-Hotel ist, so vollkommen banal erscheint das Timberline Lodge, wenn
man einmal davorsteht. Wie ja eigentlich alles explizit Touristische sich
dadurch auszeichnet, ohne jeden Zauber zu sein. Ich weiß gar nicht, wie diese
Leute aus der Tourismusbranche das hinkriegen, nämlich all die ursprünglich so
wunderschönen und spannenden Orte und Landschaften in ausdruckslose Gesichter
zu verwandeln. Man kann das gut an den Pyramiden oder den Alpen sehen, die
unendlich müde und bei aller Höhe vollkommen flach dastehen. Durchaus
vergleichbar Tieren, die, in einen Zoo gesperrt, ihre Würde und Kraft verloren
haben. Was für Rilkes Panther gilt, gilt auch für die Akropolis und das
Matterhorn.
    Man könnte andererseits die Meinung vertreten, es sei besser, die
ziemlich platte Wirklichkeit einer Sommerschifahrt zu erleben, als Teil jener
»Shining«-Geschichte zu werden und von Jack Nicholson durch lange Gänge, vorbei
an blutenden Aufzügen, hinein in ein eisiges Labyrinth gejagt zu werden. – Ist
das wirklich besser? Jedenfalls erscheint es mir als absurde Farce, im Sommer
auf einer Schipiste zu stehen. Fast so schlimm wie diese Leute, die im Winter
in der Nordsee baden und dabei die ganze Zeit hysterisch lachen und so tun, als
würden sie in einer warmen Wanne planschen.
    Was soll’s. Maritta war begeistert. Wunderbares Wetter, herrlicher
Schnee. Die geschmacklose Einrichtung des Zimmers, die wie ein Sedativ auf
jeden Psychopathen gewirkt hätte, nahm sie als nebensächlich hin. Hauptsache
Schifahren. Es versteht sich, daß ich ihr diese Freude gerne bereitete und mich
sogar meinerseits auf die Bretter stellte. Nicht aber, um ihr
hinterherzufahren, man muß nicht übertreiben. Ich blieb oben stehen, rauchte
eine Zigarette – wobei mich die Leute anglotzten, als sei ich der Oberkellner
aus »Shining«, der seine beiden Töchter zerhackt hat – und genoß die warme
Sonne auf meiner Stubenhockerhaut. Maritta machte indessen ihre Abfahrt, kam
mit dem Schlepplift wieder hoch, erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden, ich
nickte, redete irgendwas von phantastischer Gegend, dann glitt sie erneut den
Hang hinunter. Für mich hingegen ist das Schifahren wie das Frühaufstehen. Am
schönsten ist es, wenn man’s nicht tun muß.
    Â»Haben Sie alles dabei?«
    Ich schaute neben mich. Da stand ein Mann, der im Dickicht seiner
Schiausrüstung kaum auszumachen war, mit seiner Brille aus
rotorangeverspiegeltem Glas und der hochgeschlossenen schnittigen Jacke und dem
breiten Stirnband mit japanischen Schriftzeichen. Wie viele andere Schifahrer,
erinnerte er an einen Krieger, einen modernen Krieger, welcher unsichtbare
Schneegespenster jagt. Der eigentliche Krieg wird sowieso gegen das Unsichtbare
geführt. Darum sind wir auch so verrückt danach, hypothetische Teilchen
aufzustöbern. Sicher nicht, um mit ihnen Frieden zu schließen. Wir wollen sie
unterdrücken, unter Kontrolle bringen, in erster Linie ihre Unsichtbarkeit
aufheben. Ihr Privileg zerstören. – Ich sage »wir«, weil ich mich als Mensch fühle. Ich stehe zu den Eigenarten dieser Spezies,
zu ihrer Unfähigkeit, etwas Unsichtbares unsichtbar sein zu lassen, und ihrer
Neigung, alles Heil in der Vernichtung zu suchen.
    Ich fühle mich als Mensch, aber ich bin keiner.
    Sowenig wie dieser Kerl hinter seinen alpinistischen Sonnengläsern,
der mich jetzt fragte: »Schlafen Sie?«
    Â»Ja«, gab ich zur Antwort.
    Â»Na, dann wachen Sie

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