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Gewitter über Pluto: Roman

Gewitter über Pluto: Roman

Titel: Gewitter über Pluto: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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geworden), hörte er die Morgennachrichten. Gleich die erste
Meldung berichtete davon, daß an diesem Tag die größte Annäherung der
amerikanischen Plutosonde New Horizons an ihr Ziel
erfolgen würde. So wie zuletzt angekündigt, würde das Vehikel am Nachmittag in
einer etwas geringeren als der ursprünglich geplanten Entfernung den
Zwergplaneten passieren. Vor allem zu dem Zweck, die merkwürdige Struktur, die bereits
vor Tagen das erste Mal beobachtet worden war, besser ins Visier nehmen zu
können.
    Ja, man hatte auf einigen der bisherigen Bilder kleine, engstehende
Flecken wahrgenommen, die in der Vergrößerung ausgesprochen geometrisch
anmuteten, gleich kubischen Anordnungen. Das konnte vieles und nichts bedeuten.
Und es geschah ja schließlich nicht zum ersten Mal, daß Fotos von
Himmelskörpern Anblicke boten, die den willigen Betrachter dazu verführten,
sich Kreationen fremder Intelligenzen vorzustellen. Doch bislang hatte es sich
dabei eher um skulpturale oder zeichenhafte Gebilde gehandelt, riesige
Gesichter, Schriftzüge, Symbole, und auch die angeblichen »Landebahnen« und
»Abschußrampen« hatten, vergleichbar den terrestrischen Kornfeldzeichen, stets
so ausgesehen, als hätten alle diese Außerirdischen den
Kunst-durch-Wollen-Zeichenkurs einer Volkshochschule absolviert. Das war im
Falle von Pluto hingegen anders. Keine hieroglyphischen Muster, keine
Paul-Klee-Verschnitte, keine Köpfe, die je nach Lesart an Hitler, Jesus oder
Einstein erinnerten, keine ineinandergreifenden Kraterränder, die exakt den
olympischen Ringen entsprachen, nein, was man hier vage erkennen konnte,
erschien als ein höchst diszipliniertes Nebeneinander schachtelförmiger Körper – etwas, das in hiesigen Zusammenhängen gerne als Architektur bezeichnet wird.
    Und von selbiger »Architektur« wollte man an diesem historischen Tag
Fotos schießen, die dann möglicherweise das Rätsel auflösen konnten. Nicht
wenige Menschen auf der Erde erhofften sich davon eine einschneidende
Erkenntnis, die vielleicht helfen würde, das eigene Dilemma besser zu ertragen.
Denn die Welt war ja nicht etwa schöner geworden. Nicht einmal interessanter,
von den Zwergen abgesehen. Selbst den Katastrophen haftete etwas Mittelmäßiges
an. Der Horror des Lebens wirkte seinerseits träge und phantasielos. Es fiel
ihm immer noch nichts Besseres ein, als mit Krieg und Hunger und Krankheit den
Erdball stets aufs neue zu ummanteln. Gleich einem Pianisten, der unentwegt
dieselben drei, vier Stücke spielt und dessen Virtuosität im Laufrad der
Wiederholung verödet und verflacht. Und darum also blickten die Menschen hinauf
zu einem Planeten, der keiner mehr war, und ersehnten sich ein Zeichen, welches
dramatischer und wegweisender ausfallen würde als jene Spuren in Kornfeldern,
die vielleicht ganz nett anzusehen waren, doch in ihrer ornamentalen
Beliebigkeit verschlüsselt und irgendwie auch unsinnig blieben. Ja, so mancher
betete den »wahren Planeten« Pluto an. Und zumindest in der Umgebung der Rosmalenstraße,
und vor allem bei den weiblichen Bewohnern dieses Viertels, sah man es als
weiteren Beweis für die Außerordentlichkeit des Herrn Lorenz Mohn an, seinen
Strickwarenladen bereits sieben Jahre zuvor in einen namentlichen Zusammenhang
mit diesem Himmelskörper gesetzt zu haben. Als hätte er es früher als alle
anderen gewußt.
    Lorenz selbst allerdings blieb ziemlich unberührt. Er war überzeugt,
es würde kaum viel mehr passieren, als daß die Unschärfe der Bilder mit der
Nähe noch zunahm. Jedenfalls hatte er sich mit dem Thema wenig beschäftigt,
während etwa Sera und ihre zwischenzeitlich stark abgemagerte und
zwischenzeitlich nicht nur als österreichberühmte, sondern auch weltberühmte
Scherenschnittkünstlerin tätige Schwester mit größtem Interesse die Nachrichten
verfolgten. Vom mächtigen Wohnsofa aus, wo die beiden Schwestern, wann immer
dies möglich war, den Abend zusammen mit Lorenz verbrachten. Nicht etwa, weil
Lou Bilten im Zuge ihres erstaunlichen Gewichtsverlustes auch ihre Bosheit und
ihre von Zigarettenqualm umrankte Überheblichkeit eingebüßt hätte, doch gerade
in den letzten Monaten war es gewissen Umständen zu verdanken gewesen, daß
Lorenz – wenn er denn nur günstig saß oder stand, und das tat er meistens –
Dinge, die er nicht sehen

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